Lebendige Geschichte 30 Jahre Leben mit Lupus

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Hallo,

als 1960 Geborene gehöre ich zu der "zweiten Generation" der Nachkommen von Vertriebenen aus dem historischen deutschen Osten - Ostpreußen, Pommern und Schlesien.

Die "Tätergeneration" ist gut bekannt. Es sind die Menschen, die als Erwachsene Hitler wählten und den Verlust ihrer Heimat selbst mit verursacht haben.

Als die Generation der "Kriegskinder" werden die Menschen bezeichnet, die im so genannten Dritten Reich Kinder und Jugendliche waren und auf vielfältige Weise durch diese Zeit geprägt wurden. Sie bauten das Nachkriegsdeutschland in der oftmals neuen Heimat wieder auf.

Als "Zweite Generation" oder neuerdings "Kriegsenkel" ist die Nachkriegsgeneration bekannt, die ins Wirtschaftswunder von Ende der 1940er bis in die 1970er Jahre hineingeboren wurde. Mir gefällt der Begriff "Zweite Generation" besser, weil er mehr in die Zukunft schaut.

Das Thema "Krieg und Nationalsozialismus" wurde in meiner Herkunftsfamilie stets offen und kritisch diskutiert und der Verlust der Heimat intensiv betrauert, nie in dem Tenor von "wir möchten unser Land wiederhaben". Meine beiden Großväter hatten sich gegen Hitler gestellt, der eine als Laie in der Bekennenden Kirche in Ostpreußen, der andere als Pfarrer in Schlesien, der sich bewusst nicht den Deutschen Christen anschloss. Ich bin mit einem lebendigen, authentischen, nicht-strafenden christlichen Glauben und einer sehr interessanten familiären Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte aufgewachsen.

Wie sehr sich jedoch meine Elterngeneration von der Großelterngeneration unterschied, wurde mir schon als Kind am Beispiel meiner schlesischen Großmutter deutlich. Sie hatte das ungebrochene Selbstbewusstsein der im Kaiserreich Geborenen, wo "die Welt noch in Ordnung" war. In den 1920er Jahren hatte sie sich eine Berufsausbildung weit weg vom schlesischen Zuhause erkämpft. Erst mit 30 hatte sie geheiratet, vier Kinder bekommen und 1936 als erste Frau im Landkreis den Führerschein gemacht. Noch mit über 70 Jahre kaufte sie sich gerne neue Kleidung und fuhr gerne in Urlaub.

Dass die Kriegskindergeneration durch die Kriegserfahrungen und die Entwurzelung aufgrund des Verlusts der Heimat vielfach traumatisiert ist, wurde mir selbst Mitte der 1990er Jahre immer stärker bewusst. Damals war Krieg in Jugoslawien und der Begriff des "Traumas" in aller Munde. Ich überlegte, dass hierzulande Millionen von Menschen den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten und von Trauma nicht die Rede war. Es gab keine wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema und keine psychotherapeutischen Angebote. Allein die Tätergeneration war seit den 1960er Jahren von A bis Z sozialpsychologisch "durchgearbeitet" worden.

Das änderte sich Ende der 1990er Jahre. Plötzlich gab es Veröffentlichungen, Fernsehdokumentationen und Internetseiten zum Thema "Kriegskinder". Menschen, die ihre Erfahrung einer Kindheit im Krieg in Befragungen und Studien weitergeben wollten, wurden gesucht. Es zeigte sich, dass die fehlende Jugend und die Entwurzelung aufgrund des Heimatverlusts tiefe Spuren in der Persönlichkeit hinterlassen hatten, die sich in Ängsten, Depressivität, fehlender Persönlichkeitsreifung, Sprachlosigkeit, eingeschränkter emotionaler Schwingungsfähigkeit und Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen auswirkten.

Ich finde es immer wieder interessant, wie Themen "in der Luft liegen". Daran wird deutlich, dass wir in einer Gemeinschaft leben, in der ähnliche Schickale viele Menschen bewegen. Wenn materielle Aufgaben bewältigt wurden, wird Aufmerksamkeit und Energie frei, sich mit den tiefer liegenden emotionalen Beweggründen zu beschäftigen.

Meine Generation, die erste Nachkommengeneration nach dem Trauma der Vertreibung und des Heimatverlusts, kam bis vor kurzem in der öffentlichen Diskussion nur als Nutznießer des Wirtschaftswunders, als Workoholics, die tatkräftig den Wiederaufbau fortsetzten und vervollständigten, als "1978er", die nichts mehr aufzuarbeiten hatten, weil das ja von den "1968ern" erledigt worden war, vor. Dass etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung von ihren historischen Wurzeln, der Sprache, dem Dialekt, der Kultur und der Mentalität ihrer Herkunftsgebiete abgeschnitten worden war und dass dieser Bruch bis in die Gegenwart vielfach ein Anderssein bedingt, war in der bundesdeutschen gesellschaftlichen Debatte bis vor kurzem tabu. Ich bin damit aufgewachsen, dass man nicht Breslau, sondern "Wroclaw", und "Kaliningrad" statt Königsberg sagte, und hielt das lange Zeit auch für richtig und nötig.

Durch die deutsche Vereinigung war nach 1989 ein Aufarbeitungsprozess und ein Wieder-Bewusst-Werden unserer gemeinsamen deutschen Kulturgeschichte im Vereinigungsgebiet angestoßen worden, der die bundesdeutsche gesellschaftliche Diskussion bis heute prägt. (Den Terminus "Wiedervereinigung" habe ich nie verstanden und halte ihn auch für sachlich falsch - wann existierte denn vorher ein Deutschland in diesen Grenzen, das wiedervereinigt werden konnte?)

Plötzlich und völlig unverhofft erstreckte sich unser Sprach-, Geschichts- und Kulturraum vom Saarland bis an die Oder, und das Gebiet der ehemaligen DDR, das für viele meiner Generation "weiter als China" gewesen war, wurde für die gesamtdeutsche Identifikationsbildung interessant. Es entwickelte sich ein Kennenlern- und Wiederentdeckungsprozess, der an die noch vorhandenen vielfältigen Kontakte zwischen West- und Ostdeutschen und die gemeinsamen Wurzeln und Geschichte anknüpfte. Da ich öfter in der DDR gewesen war, unter anderem beim Katholikentag 1980 in Berlin, und als Studentenvertreterin 1984 unter schwierigen Umständen eine Studienfahrt in die DDR mitinitiiert hatte, belustigten mich die Reaktionen mancher eingefleischter Westdeutscher in dieser Zeit eher. So brüstete sich ein westdeutscher Prominenter, der wahrscheinlich nie in der DDR gewesen war, Mitte der 1990er Jahre in Potsdam ein Haus erworben zu haben und dort "nie mehr weggehen" zu wollen. Oder eine Freundin, die Zeit ihres Lebens in der ganzen Welt herumgekommen war, in Deutschland aber nie nördlich der Mainlinie, erzählte mir plötzlich, wie toll es in Berlin sei, und so weiter.

In diesem Prozess der Neuintegration und des gegenseitigen Wiederentdeckens der beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten wurde mir zunehmend bewusst, dass mein Anteil der Herkunft aus dem historischen deutschen Osten in der bundesdeutschen gesellschaftlichen Debatte weitgehend tabuisiert war. Das ging so weit, dass in der deutschen Mehrheitsgesellschaft bis heute etwa manche Leute denken, Ostpreußen sei eine Gegend in Polen oder in der ehemaligen DDR gewesen. Eine Freundin machte eine Reise ins heutige Kaliningrad und wusste nicht, dass es sich um das alte deutsche Königsberg handelt. Sie hatte sich aber über die vielen deutschen Touristen dort gewundert.
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Das änderte sich Ende der 1990er/Anfang der 2000-Jahre, als eines der ersten Bücher zu diesem Thema erschien, Astrid von Friesen's Buch "Der lange Abschied: Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (2000).

Der lange Abschied

S. 16: "Der Mauerfall fiel bei mir zusammen mit dem Interesse an dem Thema der Holocaust-Überlebenden sowie der 2. Generations-Problematik, zu welchem besonders viele Psychoanalytiker schrieben und durch erschütternde Falldarstellungen uns Nahe brachten. Ein wunderbarer und kluger Freund, Dr. Shalom Litman aus Jerusalem, leitete jahrelang in Israel eine Klinik zur Behandlung der psychischen und körperlichen Spätfolgen dieser beiden Gruppen von schwer gestörten und gequälten Menschen und öffnete mir den Blick besonders für die 2. Generations-Problematik - nämlich für meine eigene. Zum selben Thema fand 1994 ein Kongress in Hamburg statt, auf dem er referierte, den wir gemeinsam besuchten. Damals war der Plan für dieses Buch bereits in mir vorhanden und ich erzählte davon in einer kleinen Gruppe von israelischen und deutschen Wissenschaftlern. Das Kuriose war: Die deutschen Therapeuten protestierten laut dagegen, dass ich diesen Begriff der 2. Generations-Problematik, der sich in der Tat in Amerika und Israel, bezogen auf die zweite Generation nach dem Holocaust, herauskristallisiert hat, nun auf uns Deutsche selbst anwenden wolle. Sie warfen mir Anmaßung vor, als würde ich durch die Schilderung von "unserem" Leid das der Juden und ihrer nachgeborenen Kinder mindern wollen. Da dieses Argument genau meine eigenen Ängste und Qualen seit Kindertagen traf, blickte ich erst nach einem Moment von Verwirrung und Verzweiflung wieder in die Runde und sah und hörte, zu meinem großen Erstauen, dass die israelischen Kollegen mich ermunterten, an dem Projekt weiterzuarbeiten, und keineswegs der Ansicht waren, dass es ausschließlich ein jüdisches Problem sei, wie eine nachgeborene Generation nach einer tiefgehenden Erschütterung mit dem Drama der Elterngeneration umgeht; gemäß der biblischen Weisheit, dass wir alle für die Sünden der Väter bis ins dritte oder vierte Glied büßen müssen."

Davor hat es offenbar kaum Veröffentlichungen zu der Thematik der "Zweiten Generation" gegeben. Bekannt ist mir bisher lediglich der Artikel von Karin Kluth, "Die Verarbeitung der Identitäts- und Integrationsprobleme der deutschen Heimatvertriebenen in der II. Generation" im Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde, herausgegeben von Ulrich Tolksdorf, Band 28, 1985, S. 289-317.

Im Jahr 2004 erschien in der Zeitschrift für Analytische Psychologie ein vielbeachteter Artikel des Berliner Psychiaters und Psychoanalytikers Uwe Langendorf, "Heimatvertreibung - Das stumme Trauma. Spätfolgen von Vertreibung in der zweiten Generation", Bd. 135, S. 207-223. Er hatte seine Gedanken bereits in einem Vortrag am Berliner Institut für Psychotherapie im Jahr 2002 mitgeteilt.

Im gleichen Jahr veröffentlichte Helga Hirsch ihr Buch "Schweres Gepäck - Flucht und Vertreibung als Lebensthema" (2004).

Schweres Gepäck


Größere Verbreitung erreichten die ab 2009 veröffentlichten Bücher zu diesem Thema von Sabine Bode. Von vielen weiteren Publikationen seien nur beispielhaft genannt Wir Kinder der Kriegskinder: Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs von Anne-Ev Ustorf, 2010, Vatertage. Eine deutsche Geschichte von Katja Thimm, 2012 und Die Kinder der Kriegskinder von Knoch et al., 2012. Der Anstoß zur Beschäftigung mit dem Themenbereich "Zweite Generation/Kriegsenkel" scheint insgesamt aus der Generation der Kinder von Vertriebenen und durch Psychotherapeuten, die sich professionell mit dieser Bevölkerungsgruppe beschäftigen, gekommen zu sein. Einzelne Veröffentlichungen gehen anscheinend bis auf Mitte der 1980er Jahre zurück.



Darmstädter Kriegsenkel

Anfang bis Mitte der 2010er Jahre hatte sich das Interesse an der Aufarbeitung der persönlichen Biographie in den Nachkriegsgenerationen ausgeweitet und eine Bewegung der Kriegsenkel
formiert http://www.forumkriegsenkel.de/. Im Jahr 2012 nahm ich an Treffen der Frankfurter Kriegsenkelgruppe teil. 2013-2017 war auf meine Intiative auch in Darmstadt eine Gruppe entstanden. Gegenwärtig pausieren wir, d. h. es finden keine Treffen mehr statt. In letzter Zeit gab es wieder mehr Anfragen. Aktuell scheint sich in Darmstadt wieder eine Gruppe zusammenzufinden, bei Interesse kann ich gerne einen Kontakt vermitteln!

Regeln der Darmstädter Kriegsenkelgruppe 2013-17 (Stand 25.10.2016):

Die Darmstädter Kriegsenkelgruppe ist ein persönlich, historisch und politisch motivierter Gesprächskreis. Wir beschäftigen uns mit den Auswirkungen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs auf unser heutiges Leben. Wir sind keine Selbsthilfegruppe.
Die Treffen dauern jeweils etwa 2-3 Stunden. Bei den Treffen übernimmt ein Teilnehmer/eine Teilnehmerin die Gesprächsleitung. Eine feste Gruppenleitung für alle Treffen gibt es nicht.
Am Anfang eines Treffens erfolgt ein Blitzlicht. Jede/r soll nicht länger als 5 Minuten sprechen. Wer möchte, kann sich anschließend von zwei anderen Teilnehmern Rückmeldungen zum eigenen Statement einholen.
Dann werden die Themen besprochen, die gerade den neuen Teilnehmern besonders wichtig sind. Anschließend wird das Thema erörtert, welches für das jeweilige Treffen ausgewählt wurde.
Faktencheck: Für kontroverse Meinungen, etwa über historische Ereignisse, sollen die Diskussionspartner beim nächsten Treffen Belege vorbringen, wenn dies von einem Teilnehmer gewünscht wird. Das Thema wird dann für das aktuelle Treffen erstmal aufs Eis gelegt. Als Belege werden akzeptiert: wissenschaftliche Studienergebnisse, Internetseiten von wissenschaftlichen Organisationen, evtl. auch Wikipedia-Seiten.
Am Ende des Treffens wird das Thema des nächsten Treffens festgelegt.
Es gibt einen Mailverteiler. Darüber werden die Einladungen zu den Treffen und Informationen an die Gruppenteilnehmer versandt. Jeder kann an den Mailverteiler Informationen senden, die er allen anderen zukommen lassen möchte. Um in diesen Mailverteiler aufgenommen zu werden, genügt eine kurze Info an die Koordinatorin Dorothea Maxin mit Angabe der Mailadresse.


Diese recht strengen Regeln in der Darmstädter Kriegsenkelgruppe wurden vereinbart, um den aufkommenden Redefluss der Teilnehmer in einem Zeitrahmen zu lenken und Spekulationen vorzubeugen und zu begrenzen.


Über die besonderen Lebensthemen der Kriegskinder- und Kriegsenkelgeneration und die zeitliche Einordnung der Generationen informiert ein Flyer des Instituts für Palliativpsychologie der Frankfurter Goethe-Universität https://www.palliativpsychologie.de.

Eine umfassende Literaturliste zu dem Thema finden Sie hier https://www.forumkriegsenkel.de.

In Frankfurt fand im Juni 2015 die Uraufführung eines Theaterstücks von Mitgliedern der Frankfurter Kriegsenkelgruppe statt, vgl. https://www.kollagenose.de.

Die Phoenix-Runde vom 7.5.2015 thematisierte "Kriegsenkel - wie wir den Krieg bis heute spüren":





Im Folgenden werden die verschiedenen Aspekte der "Kriegsenkelthematik" nach Stichpunkten gegliedert (die Gliederung ist vorläufig):

Die Anerkennung der Traumatisierung der Erlebnisgeneration und ihrer Auswirkungen auf die Nachkommen
- Traumatisierung durch Bomben
- Traumatisierung durch Flucht und Vertreibung
- Traumatisierung durch Vergewaltigung, Ausgestoßenwerden und existentielle Entbehrungen
- Auswirkungen von Leid und Entbehrungen in der NS- und Kriegszeit allgemein
- Auswirkungen der Entbehrungen in der Nachkriegszeit
Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehung
Rückblick auf die Zeit vor 1933, die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und den in Deutschland traditionell vorherrschenden autoritären Erziehungstil
Sprachlosigkeit
Wurzelsuche
Das positive Erbe bewältigen
Psychologische Aufarbeitung
Die Auseinandersetzung mit der Tabuisierung des deutschen Leids, die durch die "1968er-Generation" verstärkt wurde
Die Auseinandersetzung mit Stereotypen über Deutschland in der Geschichtsschreibung und in Medien
Zeitgeschichtliche Aspekte
Ausblick
Kriegsenkelgruppen
Internetseiten von Kriegsenkeln


Die Anerkennung der Traumatisierung der Erlebnisgeneration und ihrer Auswirkungen auf die Nachkommen

Traumatisierung durch Bomben

Der Film "Brandmale" von 2004 schildert die Traumatisierung von Darmstädter Überlebenden der Bombennächte.




Auch ein Kunstprojekt befasste sich mit diesem Thema, http://www.brandnamen.info. Dabei wurde ganz besonders auf den Aspekt der Anerkennung eigenen Leids ohne Leugnung der Schuld eingegangen. Der Initiator schrieb dazu:

"Von der Geltung täter_innengesellschaftlichen Leids infolge der Darmstädter >>Brandnacht<<

Das radikal-humanistische Kunstprojekt Durmstädter Brandnamen legt ein kalligraphisches Mahnmal vor, das die (Brand-)Namen der Getöteten und Augenzeug_innen der Darmstädter >>Brandnacht<< (Luftangriff auf Darmstadt, 11. September 1944) handschriftlich auf einem einzigen Papierbogen zusammenführt. Mithilfe historischer Totenlisten aus dem Hessischen Staatsarchiv Darmstadt konnten bereits ca. 4.000 Brandnamen >>eingebrannt << werden.
(...)
Zweifelsohne, das faktische Leid infolge des Dritten Reiches war, ist und bleibt gravierend und möge mit keiner Daseins-Faser je geleugnet, verharmlost und vergessen werden. Zweifelsohne, das faktische Leid infolge der Darmstädter >>Brandnacht<< war, ist und bleibt gravierend und möge aus einer reinen Anschauung implikationsfrei geltend gemacht werden (dürfen). Zweifelsohne, die damalige und gegenwärtige nazistische Ideologie war, ist und bleibt roh und boshaft.
Das Mal ist ein selbstreferentielles Mahnmal, kein (personen-)gedenkendes Mal. Das Mal mahnt jene Kritiker_innen, die sich über das Mal empören; es mahnt ihre Kritiker_innen zur Reflexion, weshalb sie täter_innengesellschaftliches Leid nicht geltend machen, leugnen beziehungsweise tabuisieren.
Durmstädter Brandnamen verfolgt am Beispiel der Darmstädter >>Brandnacht<< einen sozial-ästhetischen NS-Aufarbeitungsansatz wider die geschichtsverfangene Nicht-Geltung, Leugnung und/oder Tabuisierung faktischen Leids, für die distanzierte und akzeptierende Multiperspektivität auf alle leidgebundenen Facetten des Damaligen - ohne hierbei die >>deutsche<< Täter_innenschaft in Frage zu stellen beziehungsweise Schuldentlastung zu suchen. Durmstädter Brandnamen verweist auf die Faktizität faktischen Leids infolge der Darmstädter >>Brandnacht<<, bemüht sich um dessen reine Anschauung beziehungsweise implikationsfreie Geltung und sprengt die semantische Kopplung von Opfer mit Leid beziehungsweise Täter_in mit Nicht-Leid. Durmstädter Brandnamen kritisiert die - oftmals in akademischen und/oder linken Kreisen anzutreffende - einsozialisierte, habituelle Weigerung öffentlich über täter_innengesellschaftliches Leid zu reflektieren, möchte eben dieses - tatsächliche beziehungsweise vermeintlich vermeintliche - Tabu entmachten und damit einen notwendigen, längst fälligen gesellschaftlichen Diskurs hin zur individuellen und sozialen Genesung anstoßen. Durmstädter Brandnamen zielt nicht auf Akzentuierung des täter_innengesellschaftlichen Leids ab, sondern vielmehr auf das grundsätzliche Thematisieren(-Dürfen und/oder -Wollen) dieses Leids."

Zur Erinnerung: In der "Darmstädter Brandnacht" kamen am 11./12.9.1944 etwa 11.500 der damals etwa 110.000 Einwohner ums Leben, rund 66.000 wurden obdachlos, vgl. https://de.wikipedia.org.

Von der Schwierigkeit, über das Erlebte zu sprechen, erzählt die spannende Dokumentation "Running with Mum" (2007), http://www.runningwithmum.com/html/: "Es war der 11. September 2001 - Martin Greaves wusste auf einmal, dass er seine Mutter würde zum Reden bringen müssen." Seine Mutter Aloisia war als Kind in der Darmstädter Brandnacht dem Tod nur knapp entronnen - und hatte später einen Engländer geheiratet.

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Wie schwierig es ist, zu verzeihen, wird in einem Artikel von Clemens Wagner vom 11.9.2014 im Darmstädter Echo deutlich, der die "Brandnacht" vom 11. September 1944 als Kind miterlebt hat.

Ein interessanter Befund: Ein internationales Psychologenteam untersuchte 2017 den Zusammenhang zwischen Bombenkrieg und "German Angst". Zur Überraschung der Forscher zeigte sich, dass die Menschen in den schwerer zerstörten deutschen Städten heute eine bemerkenswerte psychologische Resilienz aufweisen. Die Bevölkerung in den Städten, die stark zerbombt wurden, hatten heute im Schnitt weniger, und nicht mehr, neurotische Persönlichkeitsmerkmale als die Bevölkerung der Städte, die damals weniger zerstört wurden. Ein Ergebnis, das vielleicht für stark zerstörte Städte wie Darmstadt relevant ist. Fügt man Faktoren wie wirtschaftliche Prosperität, niedrige Arbeitslosigkeit, zentrale Lage im vereinten Europa und liberale südhessische Tradition hinzu, könnte das möglicherweise die gegenwärtige Weltoffenheit und fehlenden Berührungsängste mit Migranten erklären.

Traumatisierung durch Flucht und Vertreibung

Das Thema "Flucht und Vertreibung" wurde in der Planet-Wissen Sendung vom 12. Februar 2009 aufgegriffen.



Der Studiogast Prof. Dr. Lothar Burchardt erlebte als Sechsjähriger mit seiner Mutter und Geschwistern eine dramatische Flucht vor dem Einmarsch der Roten Armee in Ost-Brandenburg. Prof. Burchhardt beginnt sein Statement mit den Worten: "Ach ich glaube, das war nicht so schlimm, man lernt auf jeden Fall natürlich, distanziert damit umzugehen..." Ist es das typische Verhalten eines Kriegskindes, die eigenen Erlebnisse als irgendwie nicht so gravierend darzustellen? Matthias Lohre schreibt 2014 in einem Zeit-Artikel zu diesem Aspekt (s. unten): "Das eigene Leid geriet unter die Trümmer. Millionenfach mitbegraben wurde der Kontakt zu den schmerzlichen Empfindungen." Die Kriegskinder mussten sich zusammenreißen, um ihren Eltern in der Phase des Wiederaufbaus nicht zur Last zu fallen.

Merle Hilbk beleuchtet das Thema "Kriegsenkel" in einem Artikel in der "taz" vom 6.4.2013, https://www.taz.de. Sie beschreibt darin das eigene Gefühl der Heimatlosigkeit als Kind eines Flüchtlingskindes und die unbewussten Ängste ihrer Mutter sowie die Schwierigkeit, diese anzusprechen: " 'Aber woher kommt diese Angst?', fragte ich. 'Welche Angst?', fragte meine Mutter, und sah dabei aus wie ein kleines Mädchen. Da wusste ich, dass ich vorerst nicht weiter insistieren durfte.' "

Freya Klier schrieb 2014 ein Buch zu dem Thema "Wir letzten Kinder Ostpreußens". Auf ihrer Seite finden sich mehrere Fernsehbeiträge zum Thema Flucht und Vertreibung https://www.freya-klier.de/.

Welch hohe Emotionalität auch 70 Jahre nach Kriegsende mit der Vertreibung verbunden ist, zeigte 2015 eine Ausstellung von Fluchtgegenständen in München "Mitgenommen - Heimat in Dingen" https://www.sueddeutsche.de.

Vgl. hierzu auch eine sehr interessante Seite über das Schicksal von aus Ostpreußen vertriebenen Juden und Sinti "Zweifach vertrieben - Spuren vergessener NS-Opfer und Gedenken im russischen Königsberger Gebiet" https://www.stiftung-denkmal.de. Siehe hierzu auch das Buch von Reinhard Florian "Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen! Das Überleben eines deutschen Sinto", 2013 https://www.amazon.de. Im Nachkriegskönigsberg war es egal, ob man deutscher Jude, Christ oder Sinto war, die Behandlung durch die russischen Besatzer war gleich.

Jürgen Kaube schildert in einem Artikel in der FAZ vom 15.11.2014, wie realitätsfern eine Ausstellung zum Thema "Vertreibung" konzipiert wurde. Der Artikel macht deutlich, wie abgehoben und artifiziell die Diskussion um Vertreibung in Deutschland immer noch ist. Hier hilft nur nüchterne Wissenschaft. Vielleicht sollten sich solche Ausstellungsmacher einmal mit Kriegsenkeln in Verbindung setzen, um herauszufinden, welche Auswirkungen Flucht und Vertreibung auf die Menschen haben? https://www.faz.net

Wie wenig selbst professionelle Autoren über die Vertreibung der Deutschen informiert sind, zeigt sich in einer Aussage des Berliner Professors Dr. Wolfgang Kaschuba im ZDF-Beitrag "Deutschland - Wie wir leben - 2. Unsere Schätze" vom 10.1.2015: "12 Millionen Deutsche kommen mit Nichts von 1945 bis 47 nach Deutschland - man kann nicht sagen zurück, weil sie ja hier nicht geboren sind, nur ihre Vorfahren". Was ist dazu zu sagen? Natürlich waren die geflüchteten und vertriebenen Pommern, Ostpreußen und Schlesier deutsche Staatsbürger. Sie waren in Deutschland geboren und jahrhundertelang vorher auch ihre Vorfahren. Während der Flucht und Vertreibung verließen die meisten deutsches Territorium zu keinem Zeitpunkt. Die Flüchtlingstrecks bewegten sich im Januar 1945 lediglich innerhalb des Deutschen Reichs von Ost nach West. Sie kamen nach Restdeutschland, nämlich in die sowjetische Besatzungszone und nach Westdeutschland. Im heutigen Sprachgebrauch waren es Binnenflüchtlinge. Dass ihnen von Deutschen heute sogar nachträglich das Deutschsein abgesprochen wird, zeigt ein gebrochenes Verhältnis zur deutschen Vertreibung, möglicherweise im Rahmen eigener unverarbeiteter Trauer. Die damaligen deutschen Ostgebiete werden psychisch soweit abgespalten, dass sie im Nachhinein nicht mehr als zu Deutschland zugehörig und die dort lebenden Menschen nicht mehr als Deutsche wahrgenommen werden. Dabei werden sogar solche nach Staatsrecht und Völkerrecht unsinnigen Aussagen getroffen. Der Nachname des Autors lässt darauf schließen, dass seine Herkunftsfamilie selbst einen Vertreibungshintergrund hat.



Auf der Internetseite der Stadt Darmstadt findet sich bei den Gedenkstätten unter dem Titel "Vertreibung aus osteuropäischen Ländern" ein Hinweis auf ein Mahnmal der Ost- und Westpreußen. Auch hier drückt die widersinnige Bezeichnung die geistige Abspaltung der ehemaligen deutschen Ostgebiete vom Staatsgebiet des Deutschen Reichs aus, von dem der Autor der Internetseite vermutlich gar keinen Begriff mehr hat.

Vertreibung aus osteuropäischen Ländern

In einem Beitrag im Deutschlandfunk vom 25.6.2015 über einen zweitägigen Workshop "Flucht und Vertreibung" im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt zitiert der Journalist Maximilian Schönherr ganz normal wirkende Aussagen von traumatisierten Flüchtlingen aus der Nachkriegszeit und stellt sie durch seine Kommentare in einen rechtsradikalen Kontext. In seinen Aussagen findet sich ganz subtil auch die retrospektive Abspaltung der deutschen Ostprovinzen vom Staatsgebiet des Deutschen Reichs, verbunden mit einer Abwertung ("...sich immer weniger Journalisten ernsthaft wünschten, die ehemaligen sogenannten "Ostgebiete" zurückzugewinnen"). Er lobt die in der DDR gepflegte Leugnung der Flucht und Vertreibung der Deutschen und bemüht sogar den berüchtigten Chefkommentator des DDR-Rundfunks Karl-Eduard von Schnitzler als Bürgen: "Der DDR-Rundfunk, so erläuterte Jörg-Uwe Fischer vom Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam, tickte völlig anders. Unter den Suchwörtern 'Flucht' und 'Vertreibung' findet man in seinem Archiv fast nichts. Und das hat den Grund, dass die DDR-Staatspartei die negativen Begriffe umbenannte und positiv von 'Umsiedlern' und 'Neubürgern' sprach - statt von 'Flüchtlingen'". Man fragt sich schon, in welche Gesellschaft sich ein 1954 geborener deutscher Journalist da begibt. Die Berichterstattung in der DDR war staatlich-kommunistisch dirigiert und unfrei. Sie musste die völkerrechtswidrige Annektion der deutschen Ostgebiete durch die Sowjetunion und das von ihr beherrschte Polen rechtfertigen. Ob der zitierte Historiker Jörg-Uwe Fischer die Einschätzung von Maximilian Schönherr teilt, bleibt dahingestellt. Schade, dass der Deutschlandfunk sich für solch eine unwissenschaftliche und tendentiöse Berichterstattung hergibt! Positiv finde ich den Hinweis auf die in den Radioarchiven schlummernden Flüchtlingsberichte, denn sie stellen tatsächlich Schätze von Zeitzeugenberichten dar, die das Leid der Flüchtlinge ungefiltert wiedergeben. Ich werde auch den Verdacht nicht los, dass sich hinter der Härte im Umgang mit Leid und Traumatisierung von Mitmenschen, sogar der eigenen Nationalität, eine eigene unverarbeitete, vielleicht familiengeschichtlich bedingte, Trauer verbirgt. Vielleicht ist es aber auch nur die unreflektierte Übernahme von politischen Meinungen aus der Tradition der "1968er".

Dass es viele Brüche im Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Vertreibungsgeschichte gibt, zeigte 2015 auch der Artikel "Meine Großeltern waren auch Flüchtlinge" von Martin Suchrow, einem Kriegsenkel mit ostpreußischen Vorfahren, und über 500 Leserkommentare in Zeit Online https://www.zeit.de.

Wie schmal der Grat noch ist, auf dem Kriegsenkel sich im gesellschaftlichen Spannungsfeld bewegen, wurde 2015 auch in der Pressemitteilung der Frankfurter Goethe-Universität zur Ausstellung "Schlesisches Himmelreich" des Kriegsenkels Jörg Herold deutlich. Die Pressemitteilung ist ganz im Tonfall der Abspaltungstradition der "1968er" gehalten und wertet die Trauer der heimatvertriebenen Schlesier als "mystische Verklärung ihrer Heimat" ab. Auf das Leid der deutschen Vertriebenen wird sozusagen noch einmal "nachgetreten". Dass es sich bei der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Sage von Rübezahl, der gebirgigen Landschaft der Schneekoppe und der namensgebenden kulinarischen Spezialität "schlesisches Himmelreich" (Backobst mit Kartoffelklößen und Fleisch) um eine ganz faszinierende und spannende Aneignung und Annäherung eines Kriegsenkels gegenüber seiner schlesische Heimat handelt, wird nicht gesehen. Herold plant, selber nach Schlesien zu fahren und "wie ein Rübezahl durchs Gebirge zu gehen".

Sönke Krüger beschreibt als Kriegsenkel die Vertreibung der Deutschen und seiner eigenen ostpreußischen Familie in einer sehr eindrucksvollen Multimediadokumentation in der "Welt" vom 12.1.2015.

Der Blog "Das Glasauge" https://blog.zeit.de schilderte 2015 ein paar Augenblicke der Situation, in die eine Königsbergerin als Kriegskind unfreiwillig hineingeschlittert ist. Er zeigt auch, wie sehr selbst Kleinigkeiten aus der deutschen Zeit im heutigen Kaliningrad wertgeschätzt werden (s. unten).

Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg beschäftigen auch die Kriegsurenkel. Die Geschichts-AG des Gymnasiums am Markt in Achim/Niedersachsen führte im Juli 2015 ein selbstgeschriebenes Stück über die Vertreibung aus Ostpreußen auf, vgl. https://www.kreiszeitung.de, https://www.kreiszeitung.de.

Dass das nicht immer gelingt, zeigte 2015 die Berichterstattung über den Projekttag einer 9. Gymnasialklasse im oberbayrischen Geretsried. "Agnes Gatzka (...) wurde 1932 in Oppeln im heutigen Polen geboren. Sie berichtete über ihre freiwillige Einwanderung nach Deutschland 1966." Was hat hier der Begriff "freiwillig" zu bedeuten? Tatsache ist, dass die nach 1945 im nun zum kommunistischen Polen gehörenden Schlesien verbliebenen Deutschen ihre deutsche Sprache und Kultur nicht pflegen durften. Deswegen versuchten Hunderttausende, eine Ausreisegenehmigung in den Westen zu bekommen. Diese Rahmenbedingungen hätte man schildern können, dann wäre die "freiwillige Ausreise" von Agnes Gatzka verständlich geworden. Es ist die gekünstelte Wortwahl, die mich stört, da sie das Leid der Betroffenen verschleiert.

Die Vertreibung der Juden und anderer Volksgruppen in Deutschland und Europa ab 1933 und die Flucht und Vertreibung der Deutschen und anderer Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel der Ostpolen, im und nach dem Zweiten Weltkrieg, war traumatisierend, weil sie zwangsweise erfolgte, die Betroffenen sich nicht verabschieden konnten und - abgesehen von den Überlebenden des NS-Terrors - in ihre Herkunftsgebiete später nicht zurückkehren durfen. Zur Erinnerung: Etwa 12-14 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs und anderen Regionen Mittel- und Osteuropas waren betroffen. Etwa 10-20 Prozent der Schlesier und Ostpreußen kamen dabei ums Leben, vgl. https://de.wikipedia.org. Das Deutsche Reich hatte 1933 etwa 65 Millionen Einwohner, vgl. https://de.wikipedia.org, das verbliebene Deutschland im Jahr 1946 hatte ebenfalls etwa 65 Millionen, sodass grob geschätzt etwa 18 bis 21 Prozent der deutschen Bevölkerung im Jahr 1946 einen Vertreibunghintergrund hatte. Bekannte Kriegskinder aus den deutschen Vertreibungsgebieten sind bzw. waren zum Beispiel Günter Grass (geboren in Danzig), Wolfgang Thierse (geboren in Breslau/Schlesien) und Dieter Hildebrandt (geboren in Bunzlau/Schlesien).

Die psychologischen Folgen der Vertreibung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg werden kompakt und übersichtlich in dem Artikel "Heimatvertreibung - Das stumme Trauma" des Berliners Psychiaters und Psychoanalytikers Uwe Langendorf in der Zeitschrift für Analytische Psychologie, 2004, Band 136, S. 207-223 beschrieben. Er konstatiert: "Es ist jedoch auffällig, wie wenig sich die deutschen Analytiker mit der Frage befasst haben, was die Vertreibung und ihre Folgen für das kollektive Bewusstsein bedeuten und wie sie im Unbewussten der heutigen Menschen repräsentiert sind. Es scheint ein gesellschaftliches Tabu zu geben, das die Untersuchung dieser Fragen verbietet. (...)
Es wäre eine interessante und wichtige Aufgabe der psychohistorischen Forschung, die Ursachen und Entwicklung dieses Tabus zu untersuchen. (...)
Ich wundere mich selbst darüber, dass ich nie auf den nahe liegenden Gedanken gekommen bin, das Vertreibungstrauma in größerem Zusammenhang als kollektiven Prozess zu sehen. (...) Vielleicht war es die Erzählung von Günter Grass Im Krebsgang (2002), die einen Umschwung bewirkt hat. (...)
Möglicherweise hat das Tabu der Vertreibung mit einem problematischen Vaterbild zu tun, das in unserer Gesellschaft als Erbschaft des "Dritten Reichs" auf uns gekommen ist. Mir scheint, dass die Väter sich aus Scham in Schweigen gehüllt haben, so dass es in unserem Vaterbild eine Lücke gibt, in der schuldige und schamvolle Dinge verborgen sind, aber auch Leiden, denn auch Leiden macht Scham und wird versteckt. (...)
Wir sind mit unserer Heimat identifiziert. (...) Die heute vertretenen Forderungen nach Globalisierung laufen letzlich auf die Auslöschung des Heimatbegriffs hinaus (Barnet, 2002). (...)
Halten wir aber daran fest, dass Heimat mit ihren Besonderheiten für die Individuation unverzichtbar ist, was bedeutet dann Heimatverlust? Sicherlich eine Trennung von einem Teil des Selbst. Diese Trennung muss nicht traumatisch sein, wenn Rückkehr möglich ist. (...)
Ganz anders dagegen, wenn die Heimat gewaltsam und für immer verloren geht. Dadurch scheint jener Teil des Selbst bedroht, der mit der Heimat identifiziert ist, und die psychischen Elemente, die in der Heimat deponiert sind, werden entwurzelt. Nehmen wir hinzu, dass Vertreibung regelmäßig mit extremer Gewalterfahrung, Schutzlosigkeit und Auslieferung an den Feind verbunden ist und dass der Vertriebene in der neuen Umwelt gegen Ablehnung und Verachtung zu kämpfen hat, dann kann Vertreibung nur als totales Trauma beschrieben werden. (...)
Die Verarbeitung eines totalen Traumas wird mehrere Generationen in Anspruch nehmen. Die Traumatisierten sind zunächst zu sehr mit ihrer Abwehr und der Anpassung an die äußere Realität in Anspruch genommen, um Kränkung und Trauer erleben und verarbeiten zu können. Die unerträglichen Anteile werden abgespalten und an die nachfolgenden Generationen delegiert. Für große Gruppen hat Volkan (1999) das Bild des "auserwählten Traumas" geprägt. Er meint damit, dass die Identifikation mit dem Gruppentrauma die gemeinsame Identität prägt und deshalb festgehalten und tradiert wird. Ihm zufolge könnten wir fragen, ob die Vertreibung zum identitätsstiftenden "auserwählten Trauma" für die Deutschen nach dem Krieg geworden ist.
Das eindrücklichste Beispiel für ein Volk, dessen auserwähltes Trauma seit alters die Vertreibung ist, scheint mir das jüdische. (...)
Es handelt sich bei den Vertriebenen nicht nur um ein totales, sondern auch um ein kumulatives Trauma, das sich nach der Vertreibung noch lange Zeit fortsetzte. Die äußeren Angriffe und Verfolgungen wurden durch einen inneren Konflikt potenziert. Der Vertriebene hatte mit Selbstabwertung und Selbstverachtung auf Grund seiner abhängigen Position und mit Schuld- und Schamgefühlen zu kämpfen, mit Verurteilung durch sein Über-Ich und Verachtung von Seiten seines Ichideals. Es ist auch an die Überlebendenschuld zu denken und schließlich das Schuldgefühl, die Heimat aufgegeben und die Gräber im Stich gelassen zu haben. Die Gräber aufzugeben bedeutet Verrat an den Eltern, und die Aussichtslosigkeit, in heimischer Erde begraben zu werden, zerstört die Hoffnung auf Wiedervereinigung mit den frühen Objekten. (...)
Diese Verluste konnten wohl in aller Regel nicht betrauert und mussten abgespalten werden. Hinzu kamen die Abwehr von Scham und Schuld und der Verlust von Idealisierungen aus der jeweiligen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus.
Die Vertriebenen versuchten, ihre Traumatisierung ungeschehen zu machen und ihre Kränkung durch neue Tüchtigkeit zu kompensieren. (...)
Hier kommen die Kinder der Vertriebenen ins Spiel. Sie waren die einzigen Hoffnungsträger, und die Trauerarbeit konnte nur an sie delegiert werden. Diese Kinder mussten als narzisstische Selbstobjekte ihrer Eltern dienen und deren labiles Gleichgewicht stabilisieren. (...)
Ich finde bei einigen dieser Fälle ein Gefühl von Heimatlosigkeit, Unruhe und Unfähigkeit, sich zu verwurzeln und heimisch zu fühlen. Diese Menschen scheinen wie auf der Flucht oder fluchtbereit. Wir könnten von einer "gefrorenen Flucht" sprechen. (...) Ihr Heil suchen sie in der Fähigkeit, jederzeit weg zu können. (...)
Die therapeutische Aufarbeitung des Vertriebenentraumas ist dann besonders schwierig, mühsam und langwierig, wenn die Traumafolgen sich strukturell verankert haben und in Haltungen von Groll und Ressentiment verfestigt sind, die letzlich die unverarbeiteten Verlusterlebnisse der Eltern weiterführen. (...) Das verstümmelte Land [gemeint ist Deutschland] war ihm wie eine persönliche Kränkung. (...)
Ich meine die Unruhe, das Gefangensein in sich selbst, die Wurzellosigkeit, die zu ewiger Suche ohne Ziel führt. (...) Ich vermute, dass sich ein abgekapselter traumatischer Inhalt von den Eltern auf das Kind übertragen hat. (...) Schwerer wiegt für mich das Schweigen des Vaters über seine Zeit bei der Waffen-SS an der Ostfront, über den Verlust seiner Familie und seiner Heimat und wohl auch über den Zusammenbruch seiner Ideale mit dem Kriegsende (...).
Zum Schluss will ich mit einigen Fragen zum Anfang zurückkehren.
1. Gibt es ein Vertriebenentabu? Meinem Eindruck nach ist hier eine geschichtliche Entwicklung im Gang. In der Bundesrepublik der Adenauer- und Erhardzeit war das Unrecht der Heimatvertreibung sehr wohl Thema, und Forderungen nach Rückgabe und Ausgleich waren nicht ausgeschlossen. Dafür gab es ein Auschwitz-Tabu. In der DDR dürfte es umgekehrt gewesen sein, die Naziverbrechen waren sehr präsent, dafür war die Heimatvertreibung tabu und revanchistisch. Nach 68 wurde in der BRD Auschwitz erinnerbar, dafür breitete sich das Schweigen über die Vertriebenen aus. Dieses Tabu scheint sich erst in jüngster Zeit gelockert zu haben.
2. Sind in der zweiten Generation Relikte von Vertreibungstraumata vorhanden? Schon theoretisch ist dies zu erwarten und die Praxis scheint es zu belegen.
3. Macht die Beschäftigung mit dem Vertriebenentrauma heute noch Sinn? Ich möchte die aktuellen Probleme nicht dagegen ins Feld führen. Im Gegenteil, der Rückblick auf die Geschichte kann das Verständnis für die heutige Situation vertiefen und vor blindem Aktionismus bewahren. (...)
4. Kann die Beschäftigung mit dem Trauma der Heimatvertriebenen dazu verführen, die historische deutsche Verantwortung zu relativieren und die Probleme der heutigen Migranten herunter zu spielen? Im Gegenteil, die historische Verantwortung wird nicht kleiner, sondern größer, wenn wir die Vertriebenenschicksale mit einbeziehen. Auch werden wir gegenüber den heutigen Vertriebenen aus aller Welt aufgeschlossener. Den Begriff "Migrant" sollten wir allerdings aus unserem Vokabular streiche, denn er verwischt die grundlegenden Unterschiede zwischen denen, die freiwillig zu uns kommen, und den anderen, die zwangsweise vertrieben wurden und denen die Rückkehr verschlossen ist.
5. Was hat das alles mit Heimat zu tun? Vielleicht erschließt sich gerade im Verlust die Bedeutung von Heimat, die dem, der sie besitzt, unbewusst bleibt."

In diesem Zusammenhang ist eine Studie des RWI-Leibnitzinstitus für Wirtschaftsforschung von 2017 interessant: Gute Integration in den Arbeitsmarkt hilft langfristig, Folgen von Flucht und Vertreibung zu überwinden. Auf der Grundlage von Daten der Deutschen Rentenversicherung wurde die lebenslange Erwerbsbiografie von Westdeutschen mit der erwachsener Menschen verglichen, die in den Jahren 1944 bis 1950 aus den Ostgebieten vertrieben wurden. Betrachtet man sich die Sterblichkeit dieser Vertriebenen in den Jahren 1994 bis 2013, fällt auf, dass sie deutlich über der der westdeutschen Vergleichsgruppe liegt. Bei Männern ist sie durchschnittlich zwischen 12 und 21 Prozent höher, bei Frauen um 3 bis 9 Prozent. Im Alter von 88 Jahren waren beispielsweise bereits 80 Prozent der Männer aus der Vertriebenengruppe verstorben, von den westdeutschen Männern hingegen 74 Prozent. Von den Frauen im gleichen Alter waren 73 Prozent der Vertriebenen bereits tot, aber nur 62 Prozent der Vergleichsgruppe. Die verkürzte Lebenserwartung betrifft allerdings offenbar vor allem die unteren Einkommensgruppen, der Effekt verringert sich mit zunehmendem Einkommen. Die Vertriebenen, die die obersten 20 Prozent der Einkommensverteilung erreicht haben, haben sogar eine höhere Lebenserwartung als die westdeutsche Vergleichsgruppe. https://idw-online.de

Welchen Nachhall Flucht und Vertreibung in den Biographien hinterlassen kann, wird auch am Schicksal der Künstler Erwin Hapke und Heinz Henschel deutlich. Beide Autodidakten, widmeten sie sich jahrzehntelang im Verborgenen ihrer Kunst und wurden erst nach ihrem Tod berühmt. Heinz Henschel, 1938 in Schlesien geboren und 2016 gestorben, lebte ab Mitte der 50er Jahre am Niederrhein und malte. Erwin Hapke,1937 in Ostpreußen geboren und ebenfalls 2016 gestorben, verbrachte die letzten 35 Jahre seines Lebens in Unna damit, Hunderttausende Insekten, Säugetiere und Gebäude aus Papier zu falten. Die beiden Erben und Nachlassverwalter Matthias David und Matthias Burchardt tauschten sich über erstaunliche Gemeinsamkeiten dieser beiden Außenseiter aus, https://www1.wdr.de (2019).

Flüchtlingssituation 2015/16

Ein Staat - zwei Welten? Einwanderer in Deutschland. ZDF zoom, 2.9.2015
Wie die etwa 800.000 Flüchtlinge in die Gesellschaft integriert werden, ist eine Frage unserer Zukunft. Werden sie in Parallelwelten abtauchen oder lernen, unser Wertesystem zu akzeptieren?



Flüchtlingshilfe in Darmstadt: Stunde der Hilfe
Flüchtlinge willkommen: Wer das "helle Deutschland" sucht, kann nach Darmstadt blicken. Dort hat die Zivilgesellschaft bewiesen, wozu sie fähig ist. https://www.faz.net (2015).

Für Flüchtlinge: Ehrenamtliche des DRK-Kleiderladens maßgeblich an schneller Hilfe beteiligt https://metropolnews.info (2015).




Traumatisierung durch Vergewaltigung, Ausgestoßenwerden und existentielle Entbehrungen

Vergewaltigungen haben auf allen Seiten im Zweiten Weltkrieg zu Hunderttausenden stattgefunden. Die Betroffenen waren oft für ihr ganzes Leben traumatisiert und in ihrer Sexualität gestört. Vgl. hierzu den Bericht von Alen Muhic, einem jungen Mann aus Bosnien, der einer Vergewaltigung durch einen serbischen Kriegsverbrecher entstammt und einen Film über sein Schicksal gedreht hat, im Deutschlandfunk (2017). Er zeigt die Perspektiven und Chancen, die wir Heutigen im Umgang mit sexueller Gewalt im Vergleich zur Weltkriegszeit vor 70 Jahren haben: Wir können sexualisierte Gewalt und ihre Folgen öffentlich machen und die Täter konfrontieren. Damit tragen wir dazu bei, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen.

Als ich 2015 zu einem Treffen der Darmstädter Gruppe der Landsmannschaft Ostpreußen im "Ostheim" im niedersächischen Bad Pyrmont eingeladen war, um über das Thema "Kriegsenkel" zu referieren, begannen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus der Erlebnisgeneration bald von ihren eigenen erschütternden Erfahrungen im Krieg zu sprechen. Es wurde klar, dass insbesondere die Frauen, die Vergewaltigungen erlebt hatten, kaum Gelegenheit gehabt hatten, diese Geschehnisse in unserem heutigen Sinne zu "verarbeiten".

Erst spät begriff ich, dass meine langjährige Nachbarin, eine leitende Krankenschwester aus der Nähe von Tilsit, bei den Erzählungen über ihre Flucht aus Ostpreußen immer an der Stelle abbrach, an der ihre Mutter von den Russen zu Tode vergewaltigt worden war. Das Furchtbare in Worte zu fassen, war ihr auch nach vielen Jahrzehnten nicht möglich.

Rick Ostermann erzählt im Sommer 2014 in seinem Film "Wolfskinder" von den Jungen und Mädchen, die in den Jahren 1945-1948 ohne ihre Eltern in Ostpreußen ums Überleben kämpfen mussten, ein Kriegskinderthema, in dem natürlich auch wieder ein Kriegsenkelthema verborgen ist, https://de.wikipedia.org. Fast schon logisch, dass Rick Ostermann selber ein Kriegsenkel ist. Seine Mutter ist im Alter von vier Jahren mit ihrem älteren Bruder und ihren Eltern aus Ostpreußen geflohen.

Christopher Spatz beschreibt die Situation der ostpreußischen Wolfskinder in seiner 2015 erschienenen Dissertation. Er meint, dass die humanitäre Katastrophe im nördlichen Ostpreußen nicht als bloße Auswirkung der deutschen Niederlage abgetan werden könne. Sie lasse sich aus etwaigen Kriegszerstörungen und sich daraus ergebenden Folgen ebenso wenig herleiten wie allein aus dem vermeintlichen Vergeltungsbedürfnis der sowjetischen Eroberer für deutsche Kriegsverbrechen. Ursache sei vielmehr die "zerstörerische Systemumstellung" Nordostpreußens zur sowjetischen Oblast Kaliningrad gewesen. Moskau habe damals eine längst wieder vom Kampf gegen den Faschismus lösgelöste Expansionspolitik betrieben (Zitat aus einem Artikel in der Welt vom 18.2.2017). Das ist ein sehr interessanter Aspekt, den ich so bisher nicht gesehen hatte. Die Ostpreußen sind im Königsberger Gebiet nach 1945 im Zuge der Umstrukturierung ganz einfach "unter die Räder" gekommen. Sie waren überflüssig und störten und sind durch gewollte Nichtbeachtung und Nichtversorgung im Zuge dieses Umstrukturierungsprozesses verhungert und gestorben. Aus heutiger Sicht waren die ethnischen Säuberungen im eroberten Ostpreußen von 1945-1948 womöglich die Vorlage zu den späteren Zerstörungen in Tschetschenien (1999), Syrien (ab 2015) und der Ukraine (ab 2022).

Königsberg war die östlichste deutsche Großstadt. Sie hatte kurz vor dem 2. WK etwa 372.000 Einwohner. Nach einer Zählung befanden sich im August 1945 noch etwa 110.000 Deutsche in der Stadt, überwiegend Frauen, Alte und Kinder. 1947/1948 hoben die Sowjets das bis dahin geltende Ausreiseverbot auf und begannen, die noch in Königsberg und dem umliegenden Gebiet verbliebene deutsche Bevölkerung in Richtung Westen abzutransportieren. Von den zuvor 110.000 Menschen waren nur noch etwa 15.000 am Leben. Die restlichen 95.000 waren Seuchen, Hungersnöten und Übergriffen zum Opfer gefallen oder zu einem kleinen Teil heimlich in den Westen oder nach Litauen geflohen. In den Westen floh damals zu Fuß der Arzt Hans Graf von Lehndorff, der die Situation in Königsberg in seinem "Ostpreußischen Tagebuch" von 1961 beschreibt https://www.amazon.de.

Weitere Berichte über die Arbeit von Dr. Spatz, zusammen mit den beiden "Königsberger Waisenkindern" Hannelore Neumann und Gerhard Schröder:

Die Schicksale der "Wolfskinder": Historiker und Zeitzeugen erzählen am Friedrich-Dessauer-Gymnasium aus der Nachkriegszeit. Die Schüler und ihr Lehrer planen ein Buch über die Erlebnisse der Wolfskinder im früheren Ostpreußen https://www.fr.de (28.2.2017).

Zeitzeugen schildern: Die Wolfskinder und das Leid in Ostpreußen https://www.kreisblatt.de (1.3.2017).

24.05.2017, 21.00 Uhr, BR, "Kontrovers", Beitrag zum Thema "Ostpreußens Wolfskinder/Königsberger Waisenkinder". Mit Dr. Christopher Spatz, der Zeitzeugin Hannelore Neumann und Schülern des Friedrich Dessauer Gymnasiums in Frankfurt/Main.

Hannelore Neumann erzählt in diesem Video von ihrem Schicksal und wie man ostpreußisches Klunkermus macht (2020):




Schon 1990 hatte der Schlesier Eberhard Fechner diese Thematik in seinem eindrücklichen Film "Wolfskinder" beschrieben. Der Film schildert die Situation derjenigen Kinder und Jugendlichen, die über die Memel nach Litauen flohen. Man schätzt ihre Zahl auf etwa 6.000. Eine andere Gruppe waren die "Waisenkinder", die ihre Mütter durch Tod verloren hatten und zwischen 1945 bis 1948 in den Ruinen Königsbergs lebten und schließlich in Waisenhäusern zusammengefasst und 1948 ins übriggebliebene Deutschland, meist in die SBZ (sowjetische Besatzungszone) ausgewiesen wurden.




In welcher Umgebung die Waisenkinder lebten, wird im folgenden Filmbeitrag deutlich. Der Film zeigt Königsberg im Jahr 1945 kurz nach der Eroberung durch die sowjetischen Truppen. Zu sehen sind in dem Film unter anderem die zahlreichen, zum größten Teil heute noch vorhandenen Befestigungsanlagen (z. B. das Fort Quendau/Friedrich III ganz am Anfang, der Wrangelturm bei 0.33, der Dohnaturm, die Kronprinzen-Kaserne), der Hafen (z. B. bei 1,14 und 2,43), das in den 1960er Jahren gesprengte Königsberger Schloss (großer mittelalterlicher Turm, z. B. bei 2,08 und 2,58) und die heute noch vorhandene Börse (z. B. bei 1,43 und 4,20).




Nechama Drober schildert in ihrem Buch "Ich heiße jetzt Nechama: Mein Leben zwischen Königsberg und Israel" (2007) ihre Erlebnisse als Jüdin im Kriegs- und Nachkriegskönigsberg, die Deportation ihres Vaters nach Sibirien, die Flucht nach Litauen und die Ausreise nach Israel im Jahr 1990. Alle Deutsch sprechenden Überlebenden, egal ob verfolgte Juden oder Nazis, wurden von den sowjetischen Besatzern gleich behandelt, vgl. https://www.amazon.de.

Der aus Königsberg stammende Geiger und Schriftsteller Michael Wieck beschreibt die Kriegs- und Nachkriegszeit in Königsberg und seine Internierung als Deutscher durch den NKWD im sowjetischen Lager Rothenstein in seinem Buch "Zeugnis vom Untergang Königsbergs: Ein 'Geltungsjude' berichtet" (1988), vgl. https://www.amazon.de. In einem Interview schildert er seine Kindheit und Jugend in Königsberg, vgl. https://www.youtube.com.

An die Deportation von Juden aus Königsberg erinnert inzwischen ein 2011 dort aufgestellter Gedenkstein.

Gedenksteine an das Leid der Menschen in Königsberg nach 1945 stehen auch an anderen Orten, z. B. in München https://www.gedenkstein-koenigsberg.de/.

Als 1960 Geborene habe ich mir oft überlegt: Was wäre gewesen, wenn ich 15 oder 18 Jahre früher auf die Welt gekommen wäre? Das "Ostpreußische Tagebuch" hatte mich Mitte der 1990er Jahre, auch als medizinisch Vorgebildete, völlig getroffen. Das Thema der Nachkriegszeit in Königsberg ist meines Erachtens noch nicht genügend aufgearbeitet worden. Für Interessierte kann ich Vorträge von zwei "Königsberger Waisenkindern" vermitteln, die 1945 bis 1948 in Königsberg bis zur Ausweisung überlebten. Beide Mütter starben während dieser Zeit an Entkräftung und Krankheiten. Der betroffene Junge kam als 12-jähriger nach Westdeutschland, das damals 5-jährige Mädchen kam in die SBZ und beging 1962 Republikflucht über die bereits befestigte innerdeutsche Grenze - beides unglaubliche Lebensgeschichten, ein Teil unserer deutschen Vergangenheit. Die beiden initiierten im Jahr 2010 zusammen mit anderen "Königsberger Waisenkindern" einen Gedenkstein in Kaliningrad. Die sehr gut strukturierten und tief berührenden Vorträge habe ich bereits mehrfach gehört, sie eignen sich besonders auch z. B. für Schulen, Leistungsfach Geschichte, Politik oder Russisch. Sie arbeiten an einer Dokumentation und suchen weitere Zeitzeugen. Hier ein Bericht darüber in der FAZ vom 6.12.2015 https://www.faz.net.

Auswirkungen von Leid und Entbehrungen in der NS- und Kriegszeit allgemein

Matthias Lohre beschreibt in einem Artikel in der "Zeit", 39/14, "Die Unfähigkeit zu vertrauen" das Zusammenreißenmüssen und das demonstrative Stärkezeigen der Kriegskinder am Beispiel Helmut Kohls und Gerhard Schröders.

Der 1935 geborene Psychoanalytiker Prof. Dr. Hartmut Radebold schildert die Auswirkungen von NS-Zeit und Kriegsereignissen auf die Kriegskinder und die dabei gegenüber Ängsten wirkenden Abwehrmechanismen in einem Beitrag der Sendung "Horizonte" zum Thema "Kriegstraumata - 70 Jahre danach" vom 3.5.2015 im Gespräch mit Meinhard Schmidt-Degenhard:
Prof. Radebold: "Sie fragen, wie ich war? Also - 1938, so sagen die Verwandten und die Patienten meines Vaters, war ich ein lebhaftes, munteres, selbstständiges und auch offenbar selbstbewusstes Kind. 1945 war ich ein ängstlicher, verschlossener, abgemagerter Junge, voll Angst und Panik und innerlich erstarrt, konnte auch nicht weinen und trauern, das fehlte, und hatte schwere Verhaltensstörungen. Ich habe also die Schule geschwänzt, ich habe meiner Mutter Geld weggenommen und und und." (...) "Was ich erlebt habe, ich bin ja keine Ausnahme. Aber es gibt die berühmte Langeoog-Studie, wo man 5.000 Kinder hingeschickt hat zwischen 1946 und 1949, schwer traumatisierte Kinder aus Norddeutschland, und wenn man sich die Kinder anguckt: unterernährt, geringeres Längenwachstum und Gewicht, schwerste Verhaltensstörungen, kriminell bis verwahrlost, nur Heimweh haben, schwere Schlafstörungen, pausenlos erzählen von dem, was sie erlebt haben, nicht gruppenfähig und miserable Schulleistungen. Vier Jahre später wird das Heim geschlossen, weil das alles verschwunden ist. Die letzten Kinder haben normales Gewicht, Längenwachstum, normale Schulleistungen und sie erzählen nur noch auf Nachfrage sachlich über das, was sie erlebt haben. Da wird das Heim geschlossen."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Heißt das, dass sich das bei Kindern 'verwächst", oder ist das in tieferen Schichten dann abgelagert, wie kann man sich das vorstellen?"
Prof. Radebold: "Es ist in tieferen Schichten abgelagert. Ich benutze immer den Ausdruck, es ist unter einer 'seelischen Betondecke' verborgen. Man muss sich mal fragen, wie haben die Kinder das fertiggebracht? Also es gibt ja immer diesen Ausdruck 'verarbeiten', ich würde eher sagen 'bearbeiten', und Sie kennen ja den Ausdruck 'Abwehrmechanismus'. Wir verleugnen, wir verdrängen, wir bagatellisieren, und guckt man sich an, was diese Kinder gemacht haben, ist das sehr eindeutig. Sie haben also erst generalisiert: "Das haben wir alle erlebt" - bei weitem nicht alle Kinder nach dem Krieg, aber viele. Sie haben relativiert, "es war doch nicht so schlimm". Sie haben Verkehrung ins Gegenteil - es wurden nur die abenteuerlichen Geschichten erzählt, deutsche Jungs waren so erzogen im Dritten Reich, nur Angst, Panik, Schrecken, Verzweiflung gab es nicht zu erzählen. Sie haben aufgespalten Inhalt und Affekt, das heißt es waren die Affekte weg, nur noch die Inhalte. Und sie haben verdrängt, Kinder bis Sechs wissen oft nicht, was ihre älteren Geschwister und Eltern wissen. Und sie haben sich identifiziert mit den Ansichten der Erwachsenen, das heißt mit ihrer Familie und den Geschichten der Familie."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Sie haben ebengerade gesagt, 'unter dieser seelischen 'Betondecke'. Das waren dann auch die Jahre, da ging es wieder aufwärts mit der Republik..." (...) "Und wenn ich jetzt mal den Sprung mache 70 Jahre nach Kriegsende, erlebe ich interessanterweise viele ältere Menschen, bei denen das gerade jetzt plötzlich sehr präsent wird, worüber sie in den letzten 20 Jahre nicht gesprochen hun. Wie ist das zu erklären?"
Prof. Radebold: "Ich glaube, es hängt damit zusammen, einerseits dass wir sehr viel älter geworden sind, und 'durchlässiger' in der Alternssituation. Die Alternssituation bringt ja auch viele Bedrohungen und Verlust mit und noch einige andere Mechanismen, über die man noch mal reden kann, und das andere ist, es ist in Deutschland heute erlaubt, über die Kriegskinder zu reden. Also 1995 ist zum ersten Mal geredet worden über das deutsche Leid. (...) Und dann ist zum ersten Mal auf dem Kongress hier 2005 in Frankfurt am Main über das Leid der Kriegskinder geredet worden. Vorher war das nicht möglich."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Das war ein Tabu eigentlich vorher."
Prof. Radebold: "Das war ein Tabu, wir Deutschen dürfen nicht. Ich war ja Mitglied einer Forschungsgruppe ab 2002 und da war es so, dass wir attackiert worden sind. Wie können die Deutschen es wagen, darüber zu forschen und noch zu reden. Und etwa so unterstützt durch Bücher von Ilke Lorenz, Sabine Bode, Günter Grass "Im Krebsgang", und seit 2005 kann man darüber reden und heute ist es ganz selbstverständlich, dass es Kriegskinder gibt und mit allen Folgen."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Was war der Grund, dass man darüber nicht reden durfte, wie gesagt, das 'Tätervolk'?"
Prof. Radebold: "Wir waren die Kinder des 'Tätervolkes' und ich glaube auch, dass meine Jahrgänge zu einem Teil zumindestens hochidentifiziert waren mit der deutschen Schuld. Und nach dem Krieg, wir funktionierten ja, wir haben ja auch unseren Teil beigetragen, dass man geglaubt hat, es stört nicht und es hat keine langen oder weitreichenden Folgen. Wir waren ernst, ich denke, erstarrt depressiv. Wir konnten ja auch nicht trauern."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "War das diese 'Unfähigkeit zu Trauern', Alexander Mitscherlich, ist es das?"
Prof. Radebold: "Auch. Also ich habe Schwierigkeiten mit dem Wort 'unfähig'. Ich glaube, wir waren erstarrt. Zu erstarrt, und hatten keine Möglichkeiten zu trauern. Gucken Sie, ein Großteil der Männer war ja vermisst (...) Es gab also auch keinen Ort zum Abschiednehmen. Man durfte nur stolz trauern (...), und ich glaube, das ist alles zusammengekommen, dass das erstmal nicht passierte. Und bis heute gibt es 1,1 Millionen Vermisste aus dem Zweiten Weltkrieg. Das heißt also, viele Menschen wissen bis heute nicht, wo ihre Väter oder Ehemänner liegen." Meinhard Schmidt-Degenhard: "Was da herangewachsen ist, ist dann ja auch eine vaterlose Generation."
Prof. Radebold: "Ja, ein Viertel aller Kinder ist nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Vater auf Dauer aufgewachsen, und Sie wissen, die Väter kamen teilweise spät zurück, die letzten 1955, zehn Jahre nach Kriegsende. Und für Europa schätzt man zwischen 13 und 20 Millionen Halbwaisen, und dazu gab es in Deutschland etwa 200.000 Vollwaisen."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Haben eigentlich Frauen und Männer unterschiedlich reagiert, sind unterschiedlich damit umgegangen? (...) Mädchen und Jungen?"
Prof. Radebold: "Männer als Kriegskinder? (...) Gemeinsam war ja die nationalsozialistische Erziehung. (...) Alles fing an im Kindergarten, die Gebete für Hitler gab es schon, die Schule, dann kamen die Jugendorganisationen für Jungens und Mädchen, da gibt es natürlich bestimmte Selbstbilder oder Idealbilder, die vermittelt worden sind..."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Mit denen hat sich der kleine Hartmut hochidentifiziert..."
Prof. Radebold: "(...) Und dazu kommt noch, dass ein Großteil der damaligen Kinder erzogen worden ist von diesem Buch von Johanna Haarer "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Das kriegte jede junge Mutter von ihrer Hebamme offiziell (...), und dort wird genau beschrieben, Kinder müssen streng erzogen werden, regulativ, nach den Zeiten gefüttert werden, es darf keine Nähe geben, man darf nicht warmherzig sein. Also in diesem Buch wird die harte Generation, die Hitler verlangt hat, herangezogen, und dieses Buch ist interessanterweise bis 1985 - die nationalsozialistischen Vokabeln hat man herausgenommen - gedruckt worden, verteilt worden, und man schätzt also die Auflage auf bis zu einer Million insgesamt."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Wenn Kinder so erzogen worden sind, wie Sie das gerade geschildert haben, was werden das für Erwachsene dann später?"
Prof. Radebold: "Ich denke, sehr nüchterne, sachliche Erwachsene, die wenig Gefühle zeigen, die sich unbewusst an diesen Idealbildern ausrichten. Also viele meiner Patienten wussten, dass das im Regal ihrer Mutter stand, selbstverständlich. Das war ganz normal, dass sie so erzogen worden sind. Und dazu kommen nun noch die Erfahrungen aus dem Krieg. Denn gucken Sie, die Geschichte (...) beginnt ja bereits im Ersten Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg gab es fast eine Million Halbwaisen, 600.000 Kriegswitwen schon. Im Zweiten Weltkrieg gab es dann 2,5 Millionen Halbwaisen und 1,3 Millionen Kriegswitwen. Und die Kinder aus dem Ersten Weltkrieg sind im Endeffekt unsere Eltern (...). Wir müssen also als Kriegskinder die Erfahrungen dieser Generation aufnehmen, damit klarkommen, wie sie uns erziehen. Wir machen unsere eigenen Erfahrungen, und jetzt sind unsere Kinder die dritte Generation."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "(...) Diese Erziehung dieser Kinder, verbunden mit diesen Erfahrungen als Kriegskinder, das erklärt natürlich so ein bisschen, warum diese junge Bundesrepublik so war, wie sie ist, und so geworden ist, oder?"
Prof. Radebold: "Ja.(...) Überall waren ja noch die Leute aus dem Dritten Reich tätig, (...) 2,3 Millionen Parteigenossen, und die ganzen Unterorganisationen, 80 Prozent der Lehrer waren damals in der nationalsozialistischen Lehrerschaft. Das heißt, es ging ja weiter, und die 1968 sind ja diejenigen, die nach dem Krieg geboren sind, das heißt also, von Vätern, die zurückgekommen sind, und die 1968er haben weitgehend protestiert gegen diese Väter und deren Erziehungsmaßnahmen, die das natürlich fortgesetzt haben selbstverständlich."
(...) Meinhard Schmidt-Degenhard: "Wie Ängste weitergegeben worden sind (...), so wurde auch Traurigkeit und Depressionen weitergegeben. Viele Kriegskinder sind ja auch total depressiv aus diesen Erfahrungen rausgekommen."
Prof. Radebold: "Ja, die sind erstarrt. Und (...) ich habe es ja versucht zu beschreiben, weil es keinen Ort zum Trauern gab, und keine Chance zu trauern..."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Es durfte nicht getrauert werden, es durfte nicht ausgesprochen werden."
Prof. Radebold: "Es gab also kein äußeres Verbot in dem Sinne, aber wir waren so identifiziert, ich denke auch durch die Erziehung, und weil die Erwachsenen uns auch nicht halfen. Meine Mutter hat nie in ihrem Leben bis zu ihrem Tod geweint! Ich habe sie auch gefragt, sie hat gesagt, ich kann nicht weinen! Und ich habe auch nicht weinen können. Ich habe erst, als ich meine Patienten, lauter Kriegskinder, behandelte, was ich erst nicht wusste, ab 1985, im Rahmen dieses Prozesses, weil ich offenbar auf ganz diskrete Signale reagiert habe dieser Patienten, und ganz diskreter Informationen, ist meine eigene Geschichte wachgeworden und dann habe ich angefangen zu weinen, hinter der Couch. Ich habe mich erst furchtbar geschämt deswegen, und dann habe ich gemerkt, wie mich meine Traurigkeit und meine Geschichte eingeholt hat, und heute kann ich dazu stehen, dass ich auch beim Vortrag oder bei einem Seminar, dass ich anfange zu weinen. Aber zuerst habe ich mich sehr geschämt."
Meinhart Schmidt-Degenhard: "Gab es da eine konkrete Erfahrung, Sie sagten, durch Patienten ist das gekommen, wo Sie das erste Mal bei sich gespürt haben, hoppla, das bin ich, das ist meine Geschichte, (...) ich meine als Psychiater, als Therapeut?"
Prof. Radebold: "Ich funktionierte ja auch. Ich war ein kleiner ernster Junge, der schnell erwachsen werden musste, meine Störungen gingen zurück, die Schulschwierigkeiten blieben, so ist das alles nicht. Ich musste mein Studium verdienen, ich habe meine Karriere gemacht, und immer mit dem Druck, fertig zu werden, fertig zu werden, fertig zu werden. Als ich einmal durchs Physikum gefallen bin, war das Semester fehlen eine Katastrophe, weil meine Mutter ein halbes Jahr länger arbeiten musste als Lehrerin bis zu ihrer Pensionierung. Und das funktionierte alles. Und dann, mein anderes Spezialgebiet ist ja die Psychotherapie Älterer, und ich hatte längst belegt, dass das geht, Verfahren, Dauer, und Probleme, und dann kam eine Gruppe von Menschen zwischen 50 und 65 wegen Depressionen, funktioneller Störungen, Beziehungsschwierigkeiten und so weiter, und ich habe nicht gewusst, dass das Kriegskinder sind, und die haben auch damals, mit 50, nie darauf bezogen ihre Beschwerden. Und ganz vorsichtig und ganz allmählich habe ich gemerkt, dass das Kriegskinder sind. Und alle 19 in Kassel damals, die ich behandelt habe, zwischen 1985 und 2000, alle waren Kriegskinder. Alle 19."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Wie können Menschen heute damit umgehen? Wenn ich jetzt überlege, das sind Menschen, die sind jetzt 75, 80, 85, die spüren, im Alter kommen all diese Gefühle, auch die Ängste, wieder hoch (...)"
Prof. Radebold: "(...) Also erstmal, wie kommt es hoch. Älterwerden bringt ja lauter Verluste mit sich. Von noch Älteren, Gleichaltrigen, Partnern, Partnerinnen, Verwandten, Geschwister, schon möglicherweise Kindern und Enkelkindern. Wir verlieren psychische Funktionen, auf die wir stolz sind, wir verlieren körperliche Funktionen, wir verlieren teilweise noch soziale Funktionen, dass wir viele Sachen nicht mehr machen dürfen. Und dann gibt es zwei psychologische Mechanismen. Das eine ist also eine Traumareaktivierung wie wir sagen, und das andere ist eine Retraumatisierung. (...) Traumareaktivierung heißt, also ich sehe zum Beispiel einen Film von früher über Dresden. Ich sehe auf der Gegenfahrbahn eine Panzerkolonne. Ich fahre an einen Ort zurück im Osten, wo ich geboren bin. Ich komme an ein Grab, wo ich bisher noch nicht war. Und alles wird wach. Das Unbewusste, so sagen wir Psychoanalytiker, ist zeitlos, und da spielen 70 Jahre keine Rolle. Und auch durch meine Patientenbehandlung ist etwas angestoßen worden, aus meiner eigenen Geschichte, und ist wachgeworden, was ich auch verleugnet und verdrängt hatte. Das wäre Traumareaktivierung."
Meinhart Schmidt-Degenhard:" (...) Und was würden Sie unseren Zuschauern jetzt sagen, (...), die sagen, ja genau, das erlebe ich bei mir auch."
Prof. Radebold: "Den würde ich sagen, ich würde versuchen, im Schutz meiner Familie und Umwelt anzufangen darüber zu reden. Viele Kriegskinder haben ja bis heute nicht in den Familien darüber geredet. Also weder wir mit unseren Eltern über den ersten Weltkrieg und die Erfahrung des Zweiten, noch wir mit unseren Kindern. Einige wenige sehr viel, aber 80 Prozent wohl nicht. Wir sollten da anfangen, darüber zu reden, oder zumindest ein Angebot an unsere Kinder zu machen. Aber uns gleichzeitig Schutz dazu zu suchen. Und wir brauchen noch mehr Schutz anlässlich des zweiten Mechanismus der Retraumatisierung. Das heißt, wir erleben jetzt eine neue, unter Umständen kleinere, aber schon gefährliche Traumatisierung. Wir erleben eine Sturz, brechen uns was im Dunkeln. Unsere Handtasche wird uns weggerissen. Wir erleben einen Autounfall, an dem wir unschuldig sind. Wir erleben einen Herzinfarkt. Wir müssen schnell in eine akute Operation. Und in dem Augenblick wacht der alte, traumatisierte Inhalt wieder auf. Ich habe es selbst nach meiner großen Herzoperation erlebt. Ich hatte meine Ängste an meine Frau offenbar abgetreten. Mir ging es ganz gut, ich verhandelte sachlich mit dem Kollegen, der mich operierte, und in der Nacht habe ich Schreckliches vom Krieg geträumt, und danach, etwa 5, 6 Tage, habe ich dort mit Weinkrämpfen gelegen nach der Operation, im Einzelzimmer Gottseidank, im Mehrbettzimmer hätte ich mich vor den Männern geschämt, und da ist etwas Uraltes aufgetaucht, nämlich der Wunsch an meinen Vater, er möge mich beschützen. Und der war ja nicht da, um mich zu beschützen. (...) Aber meine Frau war da, meine Kinder waren da, ich war in einer beschützenden Atmosphäre, und dann ist es abgeklungen. Aber das war eine klassische Retraumatisierung. Dreieinhalb Stunden Herzlungenmaschine. (...) Und es ist ja eine schwierige Reise, deswegen, gucken Sie, wir müssen auf der einen Seite immer noch fragen, was hat die Elterngeneration gedacht, gesagt, gemacht, und wir müssen uns zugestehen, dass wir auch Leid erlebt haben. Und das ist eine Zwiespältigkeit, die einen zerreissen kann. Beides in sich zu ertragen, und sich wirklich zugestehen, ich habe Schlimmes erlebt, und ich muss damit klarkommen, und ich muss mir Schutz suchen für mein Älterwerden, mein Lebensende."

Auswirkungen der Entbehrungen in der Nachkriegszeit

Hier wären z. B. die Hungerzeit nach 1945, das Leben in Trümmern, die Berlinblockade, Lagerhaft in der sowjetischen Besatzungszone, Verschleppung nach Sibirien zu nennen, aber auch das Aufwachsen als Kind aus Vergewaltigungen oder als Besatzungskind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es im Gegensatz zu den westlichen Ländern (Frankreich, Deutschland, Norwegen) auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion keine Zusammenschlüsse deutscher Besatzungskinder und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Zusammenschlüsse von russischen Besatzungskindern zu geben scheint. Auf der englischen Wikipedia-Seite der "War childs" werden Kinder russischer Soldaten nicht einmal erwähnt.

Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehung

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein genauerer Blick auf die nationalsozialistische Erziehung. In unserer Gruppe wurde das Buch von Sigrid Chamberlain "Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" heftig diskutiert (Psychosozial-Verlag, 2010). Einige Mitglieder sehen in ihrer eigenen Kindheit Parallelen zu dem in diesem Buch beschriebenen Erziehungsstil. Die in diesem Buch dargestellte Erziehung zur Härte könnte die Verarbeitung von Kriegstraumata und die kognitive Umstrukturierung in der Nachkriegszeit von "Leben in der NS-Diktatur" zu "Leben in einer Demokratie" erschwert haben.

Rückblick auf die Zeit vor 1933, die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und den in Deutschland traditionell vorherrschenden autoritären Erziehungstil

Eine Betroffene schreibt: "Aus der persönlichen Familiengeschichte habe ich noch ein Interessenfeld: Kriegsenkel, deren Kriegskind-Eltern nicht nur durch die Kriegs/Vertreibungs/Flüchtlings-Erfahrungen traumatisiert wurden, sondern zudem noch von psychischer/körperlicher/sexueller Gewalt in ihren dysfunktionalen Familien. Die also nicht nur Bedrohung von außerhalb der Familie erlebten, sondern auch innerhalb, von denen, die für sie verantwortlich waren und die sie eigentlich hätten schützen, lieben, nähren, fördern sollen. Das geht noch über die "Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehung" hinaus, denn ich weiß, dass schon in mindestens einer Urgroßeltern-Familie brutale Gewalt an der Tagesordnung war, also um die vorige Jahrhundertwende, die dann durch die Kriegserlebnisse noch verstärkt und bis in meine Generation weiter gegeben wurde."

Um die Dynamik in den Familien besser zu verstehen, lohnt ein Blick darauf, was die Großväter und -mütter eigentlich im Ersten Weltkrieg gemacht haben, und welche Belastungen oder Themen sich daraus für die Familienmitglieder ergaben. Wichtig scheint mir, dass die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs nicht selten Kriegsenkel oder Kinder von Tätern des Ersten Weltkriegs sind und damit vielleicht eine doppelte Traumatisierung oder Belastung verbunden sein kann.
Auf der anderen Seite gibt es auch die Generation der "Konsequenzenzieher", d. h. die Männer, die am Ersten Weltkrieg teilnahmen und aus dieser Erfahrung heraus Kriege für die Zukunft ablehnten und zu Gegnern Hitlers wurden.

Sprachlosigkeit und Orte der Erinnerung

Besonders Kinder aus Täterfamilien und aus von Flucht und Vertreibung betroffenen Familien berichten von einer allgemeinen Sprachlosigkeit im Familienkreis, was Themen wie Zeit des Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Flucht und Vertreibung betrifft.

In einem Essay "Die Versöhnung" analysiert Merle Hilbk im "Spiegel" 19/13, S. 48-49 vom 6.5.2013 https://www.spiegel.de die transgenerationale Weitergabe von Verarbeitungsmustern: "Das Auffälligste an den Kriegskindern, schreibt Psychoanalytiker Ermann, sei die Unfähigkeit zu trauern. Diese Unfähigkeit hätten sie schon bei ihren Eltern erlebt, nicht zuletzt durch Schuldgefühle angesichts der Verbrechen, die das eigene, kurz zuvor noch zur Herrenrasse erklärte Volk verübt hatte. Bei den Enkeln habe sich diese Unfähigkeit zu einem inneren Verbot umgeformt, selbst zu fühlen. Die Kriegskinder hätten versucht, eine heile Welt zu schaffen, in der sie sich nie wieder so hilflos fühlen mussten wie im Krieg - und sie taten alles, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Oft sprechen Kriegsenkel davon, dass sie sich richtungslos fühlten. Psychologen und Analytiker berichten davon, dass viele Kriegsenkel Schwierigkeiten hätten, sich längerfristig zu binden, an einen Partner, einen Job, einen Wohnort oder an ein Lebensmodell. Manche haben ein Dutzend Umzüge hinter sich, viele sind kinderlos."

Sprachlosigkeit herrschte in den 1950er Jahren auch in manchen Opferfamilien, wie der Film "Verräterkinder" von Christian Weisenborn von 2014 zeigt.




Auch in jüdischen Opferfamilien ist Sprachlosigkeit ein Thema. Arnon Goldfinger schildert in dem faszinierenden Film "Die Wohnung" (2011) die Geschichte seiner Eltern und Großeltern. Verena Friederike Hasel schreibt dazu im Berliner "Tagesspiegel": "Der israelische Psychologe Dan Bar-On hat diesem Phänomen sein wissenschaftliches Leben gewidmet. Er stellte fest, dass in vielen Familien von Schoah-Opfern eine Art Schweigegelübde galt. 'Über den Holocaust spricht man nicht', lautete, ähnlich wie in Täterfamilien, die unausgesprochene Übereinkunft".




Der Psychiater und Psychoanalytiker Prof. Dr. Hartmut Radebold äußert sich in einem Interview mit Meinhard Schmidt-Degenhard in der Sendung Horizonte im Hessischen Rundfunk vom 9.5.2015 ("Die späten Leiden der Kriegskinder") zu der Frage der Sprachlosigkeit:
Prof. Radebold: "Sie haben ja den Spruch von Adolf Hitler zitiert: 'Zäh wie Leder, flink wie die Windhunde und hart wie Kruppstahl'. Diese Generation sollte zusammengehämmert werden, zurechtgehämmert werden (...)."
Schmidt-Degenhard: "Dazu kommt noch, diese Männer waren letztendlich Täter, sagen wir es ganz offen. Sie waren auf der Täterseite."
Prof. Radebold: "Sie waren auf der einen Seite aktiv Handelnde und Täter, auf der anderen Seite bringen sie ihre Beschädigungen und Traumatisierungen mit. Und diese Beschädigungen und Traumatisierungen haben sie auch oft gar nicht in die Lage versetzt, irgendwo Partner zu sein, Vater zu sein, die haben sich zurückgezogen, die haben funktioniert, und von den Vätern meiner Patienten, die zurückgekommen sind, ist von allen berichtet worden, dass diese Väter unerreichbar waren. Die berühmte Stacheldrahtkrankheit, man sieht die Leute, aber man kann sie nicht anfassen. Und so haben meine Patienten ihre Väter erlebt, dass war sehr typisch."
Schmidt-Degenhard: "Hinzu kommt natürlich auch, dass über Jahrzehnte im Grunde garnicht gesprochen werden durfte, das war politisch inkorrekt, die Leiden der Täter, des Tätervolks anzusprechen."
Prof. Radebold: "Die Leiden waren nicht erlaubt. Es war ja noch nicht mal erlaubt oder möglich, über die Leiden der Kriegskinder zu sprechen. Erst recht nicht über die Leiden dieser Männer, auch der Frauen, die irgendwo beim BDM waren oder eingebunden waren, durfte nicht geredet werden. Und auf der anderen Seite glaube ich, es gab ja über fünf Millionen tote Soldaten bei uns. Es gab in Russland 14 Millionen tote Soldaten, also angesichts dieser Zahlen glaube ich, waren auch alle erstarrt, das überhaupt zuzulassen."
Schmidt-Degenhard: "Mir hat unlängst ein Seelsorger aus einem Altenheim gesagt, der Zweite Weltkrieg findet jetzt im Altersheim statt."
Prof. Radebold: "Der tobt im Altersheim, der findet nicht nur statt. Wenn Sie sich die Jahrgänge angucken, es gibt noch etwa 100.000 Männer über 90 und 400.000 Frauen, das sind junge Erwachsene aus dem Krieg. Jetzt kommen die Kriegskinder in die Altenheime, nehmen Sie Alter 82, durchschnittliches Aufnahmealter, dann sind das die Kinder aus dem Krieg, die jetzt kommen, und die Heime sind in keiner Weise darauf vorbereitet. Alle Professionellen sind nicht vorbereitet, dass sie jetzt dieser Gruppe begegnen."
Schmidt-Degenhard: "Ich habe zu Beginn der Sendung gesagt, die einen waren im Krieg, die anderen zuhause oder auf der Flucht, und wieder andere in Konzentrationslagern. Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen, Frauen, Männer, Kinder, hunderttausende, ja Millionen (...). Jetzt haben wir hier in der Sendung drei Geschichten erzählt. Das Flüchtlingskind, die beiden Soldaten und eben eine Frau, die Ausschwitz überlebt hat. Darf man diese drei Geschichten eigentlich nebeneinander erzählen in einer Sendung?"
Prof. Radebold: "Man muss sie sogar nebeneinander erzählen. Sie sind ein Stück unserer Geschichte, und diese Geschichte gehört zu Deutschland. Es gehören dazu der Massenmord an den Juden (...), es gehören dazu die Schicksale der Soldaten, und es gehören dazu die Erfahrungen der Kriegskinder. Alle drei sind unsere Geschichte."
Schmidt-Degenhard: "Und wie umgehen: Täter - Opfer? Auf verschiedenen Seiten doch, im Leid?"
Prof. Radebold: "Ich weiß es ehrlicherweise nicht, wie damit umgehen. Ich glaube, wir können es nur annehmen, dass es so ist, versuchen, es ein Stück zu begreifen (...). Und die Dimensionen sind ja in Wirklichkeit unvorstellbar. Und ich halte es für so wichtig, dass erzählt wird (...)."
Schmidt-Degenhard: "Es gab ja vor Jahren in Frankfurt auch einen großen Kongress "Kriegskinder (...)."
Prof. Radebold: "(...) Da ging es darum, dass zum ersten Mal erzählt wurde (...). Zum ersten Mal hatten die Kriegskinder das Gefühl, sie dürfen jetzt erzählen und es hört ihnen jemand zu. Denn bis dahin ja ja niemand zugehört. In den Familien wollte man nicht hören, was die Kinder erlebt hatten, in der Schule nicht, in den Partnerschaften konnte und wollte man es nicht hören, hinterher auch keiner, und so hatten sie das Gefühl, keiner will etwas wissen, wir dürfen auch nichts darüber erzählen."
Schmidt-Degenhard: "Diese Täter-Opfer-Spannung, wie sind Sie damit umgegangen?"
Prof. Radebold: "Nun waren ja die Kriegskinder in dem Sinne keine Täter, sondern die Menschen jünger als 1928 waren aktiv in den Krieg eingebunden. Ich glaube, wir müssen wirklich unterscheiden, das eine sind die jungen Soldaten und die noch Älteren, mit beidem, was sie mitbringen, und auf der anderen Seite die Kriegskinder, die zwar eine bestimmte Verantwortung haben, dass wir aufpassen müssen, dass sowas nie wieder passiert. Dass wir darüber reden, aber wir haben unser Leid. (...) Micha Brumlik hat auf dem erwähnten Kongress gesagt, wir Kriegskinder müssen ertragen, fast unerträglichen Zwiespalt, nämlich: Wir müssen genau fragen, was haben unsere Eltern gedacht, gesagt und getan, und was haben wir selbst als Leid erlebt, und das müssen wir annehmen, dass wir auch Leid erlebt haben."

Erst die Generation der Kriegsenkel kann womöglich klar formulieren: Das Leid von beiden, Tätern UND Opfern, muss betrauert werden. Erst dann wird die Gesellschaft wieder heil, "ganz" im psychologischen Sinne. Alle Menschen müssen eigene Gewalterfahrungen, Verluste usw. betrauern. Der Kontext, die Rahmenbedingungen unterscheiden sich jedoch bei Opfern und Tätern. Die Täter tragen die Schuld der Täterschaft und müssen letztendlich auch betrauern, dass sie sich verführen ließen und mitgemacht haben. Die daraus zum eigenen Leid entstehende Spannung müssen sie aushalten und an genau diesem Punkt setzen die vielfältigen Abwehrmechanismen ein, die Prof. Radebold beschreibt. Die Opfer tragen die Last der Gewalterfahrung und Ohnmacht. Die Nachkommen der Täter müssen sich der geschichtlichen Verantwortung stellen. Deswegen sind Orte der Erinnerung so wichtig. Das Geheimnis der Versöhnung, ob mit der eigenen Herkunft oder mit dem Nachbarn, heißt Erinnerung. Versöhnen bedeutet nicht, Verzeihen, nicht Vergeben, nicht Vergessen - den Nationalsozialismus oder andere Diktaturen und Gewaltereignisse kann man nicht verzeihen oder entschuldigen, aber in ihrem geschichtlichen Kontext verstehen und erklären. Der Prozess der Versöhnung kann, wenn es gut läuft, von sehr unterschiedlicher Betrachtung und Bewertung, von Siegerposen und Ausblenden der Opfer wie am Beispiel des Untergangs der "Gustloff" zu gemeinsamem Gedenken aller Opfer führen (Beispiel: Kohl und Mitterand in Verdun 1985). Vgl. dazu auch den sehr hörenswerten Beitrag in HR2 Camino "Der lange Schatten von Bomben und Flucht - die Kriegsenkel" von Elena Griepentrog vom 9.5.2015, © Elena Griepentrog. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlichem Einverständnis von Frau Griepentrog.



9.5.2015, Mahnmal für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft in der Ruine der Stadtkapelle in Darmstadt

Mahnmal in der Ruine der Stadtkapelle in Darmstadt

Mauer bei der Stadtkapelle     Bei der Stadtkapelle

Wie hier wohl dem 70. Jahrestag des Kriegsendes gedacht wurde? Für den 8.5.2016 hatte ich Gleichgesinnte zu einem Empathiespaziergang rund um dieses Gelände eingeladen. Die Idee zu diesen Spaziergängen geht auf den Kriegsenkel und Fotografen Andreas Bohnenstengel vom Netzwerk Gewaltfreie Kommunikation in München zurück.

Wurzelsuche

Besonders bei den Kriegsenkeln aus Familien, die von Flucht und Vertreibung betroffen waren, entsteht die Frage, "Woher komme ich eigentlich?" Manche fahren erstmals in die Herkunftsgebiete und lernen die Heimat ihrer Vorfahren kennen. Andere beschäftigen sich mit Ahnenforschung oder stellen Suchanfragen nach verschollenen Angehörigen bei Suchdiensten wie dem Roten Kreuz. Viele nehmen Kontakt auf mit Verwandten, die sie schon lange oder noch nie gesehen haben. Bei Interviews mit Verwandten empfielt es sich, Fragen vorzubereiten und Stichworte zu machen oder ein Diktiergerät dazuzulegen. Auch Videoaufzeichnungen können Begegnungen viel intensiver für später aufbewahren.

Bekannte Angehörige der zweiten Generation sind zum Beispiel Angela Merkel (Vater aus Berlin/Großvater aus Posen, Mutter Danzigerin), Winfried Kretschmann (beide Eltern aus dem Ermland in Ostpreußen) und Sigmar Gabriel (Vater aus Ostpreußen, Mutter aus Schlesien).

Das Land in meinem Kopf - Feature zum Nachhören von Rainer Schildberger, NDR Kultur, 17.02.2015
Rainer Schildberger reist mit den ererbten Erinnerungen seiner Mutter nach Ostpreußen. Sie musste 1945 von dort flüchten. Doch das Land ihrer Kindheit ist verschwunden Deutschlandfunk.
Anmerkung: Die erfolglose Suche von Herrn Schildberger zeigt, dass sich die Kultur und Eigenart eines Volkes in erster Linie nicht in den übriggebliebenen Häusern und Ruinen vor Ort findet, sondern bei den noch lebenden, von dort stammenden Menschen (falls es sie noch gibt). Die allermeisten Ostpreußen leben schon lange nicht mehr in ihrer alten Heimat, sondern in "Restdeutschland". Das ist so ähnlich, als wenn man in die Türkei fährt und dort die Kultur der alten Griechen "erleben" möchte. Eine Ahnung von der Kultur und Mentalität eines Volkes in der Region, die von ihrem Volk verlassen wurde, wird man am ehesten in unzerstörter Landschaft und in zweiter Linie in den Ruinen und Gebäuden aus der damaligen Zeit finden. Insofern hätte eine Reise zusammen mit Personen, die aus der Gegend stammen, dem Autor viel mehr "Ostpreußen" vermittelt. Dass sich diese Ebene dem Autor noch nicht erschließt, wird auch in der Bemerkung deutlich, dass das Ostpreußischste in seiner Familie die "Königsberger Klopse" waren. Das Ostpreußischste in der Familie von Rainer Schildberger ist ganz offensichtlich die typische Mentalität und der unnachahmliche ostpreußische Dialekt seiner Mutter, die in dem Radiobeitrag sehr oft zu Wort kommt.

Henriette Piper - Enkelin von Hugo Linck, dem letzten Pfarrer von Königsberg, veröffentlichte 2019 eine Biographie ihres Großvaters https://henriettepiper.de/

Bekenntnisgeneration: Späte Beschäftigung mit der Heimat der Eltern. Astrid Leiterer erzählt die Geschichte ihrer Familie vor dem Hintergrund von Weltkriegen, Teilungen und Vertreibungen (2023) https://paz.de
Astrid Leiterer http://www.astrid-art.de/

Marianne Klitzka: Ostpreußen ist weit: Ein biografischer Roman über die Jahre 1947-1945 https://www.literaturmagazin-bremen.de

Jost Baum und Dieter Jandt: Die Perle von Allenstein - Heimatsuche in Ostpreußen, SWR 2, 25.3.2024 https://www.swr.de

Miriam Bavarel: "Die Zeit der Waller Wölfinnen", 14.4.2024 https://weserreport.de

Beispiel einer Betroffenen:

Wanderungsbewegungen Familie 1.
Quelle der Originalgrafik: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Frage

Geboren in Bensheim a.d. Bergstraße
Wohnorte: Darmstadt-Arheilgen, Jugenheim, Alsbach, Gernsheim

Mutter:
geboren in Meseritz a.d. Obra/Grenzmark Posen/Westpreußen (heute Międzyrzecz in Polen)
letzter Wohnort: Bensheim a.d. Bergstraße/Hessen

Vater:
geboren in Klausberg (bis 1936: Mikultschütz), Kreis Beuthen/Oberschlesien (heute Stadtteil Mikulczyce der Stadt Zabrze in Oberschlesien, Polen)
letzter Wohnort: Bensheim a.d. Bergstraße/Hessen

Eltern der Mutter:
Mutter: geboren in Braunau/Kreis Löwenberg in Schlesien (heute Brunów in Polen)
Vater: geboren in Meseritz a.d. Obra/Grenzmark Posen/Westpreußen (heute Międzyrzecz in Polen)

Eltern des Vaters:
Mutter: bekannter früherer Wohnort: Klausberg (bis 1936: Mikultschütz), Kreis Beuthen/Oberschlesien (heute Stadtteil Mikulczyce der Stadt Zabrze in Oberschlesien, Polen)
Vater: bekannter früherer Wohnort: Klausberg (bis 1936: Mikultschütz), Kreis Beuthen/Oberschlesien Mikulczyce der Stadt Zabrze in Oberschlesien, Polen), zuletzt Gardelegen/Altmark


Das positive Erbe bewältigen

Die etwas weiter gefasste Kriegsenkelthematik aus jüdisch-jugoslawisch-deutscher Sicht zeigt der wunderbare Film "Titos Brille" (2014) von Regina Schilling am Beispiel der deutschen Jüdin Adriana Altaras, deren Eltern im Zweiten Weltkrieg als Partisanen in Jugoslawien kämpften. 1960 geboren, gehört sie der Kriegsenkelgeneration an, während ihre Eltern aus der "Heldengeneration" stammen:




Psychologische Aufarbeitung

Auf die Frage, was sie im Zusammenhang mit dem Thema "Kriegsenkel" besonders beschäftigt, antwortet ein Betroffener:
- Rückgewinnung der Autonomie über meine Biografie: in meine volle Kraft als Mann kommen
- Wissen, was los ist/war
- mich verbunden fühlen, weil das, was geschehen ist, ausgesprochen oder gelöst ist

Prof. Hartmut Radebold beschreibt die Auswirkungen von Krieg und NS-Zeit auf die Kriegsenkelgeneration in der Sendung "Kriegstraumata - 70 Jahre danach" im Hessischen Rundfunk vom 3.5.2015:
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Sie haben eben angesprochen diese Generationenfolge. (...) Vererben die sich, diese Traumata?"
Prof. Radebold: "Naja, vererben nicht, aber wir haben natürlich massivst etwas weitergegeben. Also diese Kinder der Kriegskinder äußern sich etwa seit vier, fünf Jahren. Und ihre Klagen sind weitgehend übereinstimmend. Es gibt da also zwei Bücher, zwei Reporterinnen, es gibt einen Forschungsbericht aus Hamburg "Feuersturm und die Deutschen Familien", und die sagen Folgendes: Ihr habt uns erzogen nach Maßstäben, die ihr uns nie erklärt habt. Warum müssen wir alles aufessen, warum müssen wir einen gepackten Rucksack neben dem Bett haben, warum müssen wir uns absichern, warum dürfen wir nichts wegwerfen und so weiter."
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Das waren alles die Ängste der Kriegsgeneration, der Kriegskinder, die mussten damals."
Prof. Radebold: "Jaja, wir mussten, aber haben es an unsere Kinder weitergegeben, selbstverständlich ohne es ihnen zu erklären. Das Zweite ist, dass sie sagen, wir spüren, in euch drin gibt es etwas, wo wir euch nicht erreichen können. In euch drin gibt es einen abgekapselten Bereich. Das Dritte ist, ihr habt uns sehr wenig Wärme gegeben und Nähe. Also dass Väter ihre Söhne in den Arm nehmen oder Mütter ihre Töchter, das ist kaum vorgekommen. Ein weiterer Punkt ist, ihr habt versucht, uns eine äußere sichere Welt zu geben, Spielzeug, Taschengeld, Reisen, Kinderzimmer, all das, was ihr nicht gehabt habt, sollten wir haben, aber ihr habt gleichzeitig angenommen, kümmert euch bitte um eure 'kleinen Probleme' selbst, also Mobbing in der Schule, Schwierigkeiten und so weiter, weil wir unbewusst wohl gedacht haben, wir haben unsere eigenen Probleme selbst lösen müssen, also können unsere Kinder ihre 'kleinen' auch. Schließlich gibt es Verunsicherungen, schwierige Bindungen, soll man sich langfristig auf etwas einlassen. Und dann gibt es Symptome. Warum hat sozusagen Ihre Generation der Kinder der Kriegskinder Ängste im Dunkeln, vor Feuerwerk, bei Panzern, bei Sirenenklängen, und und und. Es ist unerklärlich, wo kommen die Ängste her?"
Meinhard Schmidt-Degenhard: "Die gibt es noch in unserer Generation, die den Krieg an sich nicht erlebt haben?"
Prof. Radebold: "Ja, das sind die Ängste der Eltern. Das heißt, die Kinder sind so eingebunden in dieses familiäre System, dass sie das übernommen haben. Sie leben in der Geschichte ihrer Eltern, also unsere Kinder zu einem Teil in unserer Geschichte, und sie müssen jetzt lernen, zwischen 45 und 60, (...) das ist die Geschichte meiner Eltern, der Kriegskinder, und das ist meine Geschichte, und ich muss jetzt mein Leben leben."

Bei Kriegsenkeln aus Familien mit Flucht- und Vertreibungshintergrund können Symptome wie das Gefühl der Heimatlosigkeit, häufige Umzüge, häufige Partner- und Berufswechsel möglicherweise als Wiederholung oder Übertragung des Vertreibungstraumas gedeutet werden. Sogenannte gebrochene Biographien mit Problemen im persönlichen und beruflichen Bereich scheinen häufiger zu sein. Ausgrenzungen einzelner Familienmitglieder aus dem Familiensystem spiegeln möglicherweise einen Vertreibungskontext. Auch Kinderlosigkeit kommt womöglich öfter vor.

Typisch scheint das fehlende Einfühlungsvermögen der Kriegskinder gegenüber den Sorgen und Nöten ihrer eigenen Kinder in der heutigen Zeit und die Verständnislosigkeit der Kriegsenkel gegenüber den kriegsbedingten Themen und Eigenheiten ihrer Eltern zu sein. In der Phoenix-Runde vom 7.5.2015 (s. oben) formuliert Sabine Bode es so, dass die beiden Generation "in verschiedenen Welten" leben. Die kriegsbedingte emotionale Blockade der Eltern kann soweit gehen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht lieben können. Oftmals schilderten Betroffene in der Kriegsenkelgruppe, wie in einem "Nebel" zu leben und beklagten die Sprachlosigkeit in ihren Herkunftsfamilien.

Offenbar gibt es in den Kriegsenkel-, Kriegskinder- und Täterfamilien meist auch nur ein Familienmitglied, dass sich mit den tiefergehenden Hintergründen der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Nur einmal habe ich bisher gehört, dass sich zwei verwandte Personen aus der Kriegsenkelgeneration mit der psychologischen Aufarbeitung ihrer Familienherkunft beschäftigen. Die anderen Familienmitglieder sind mit ihrer Situation mehr oder weniger zufrieden und zweifeln die Sichtweisen und Einschätzungen des Verwandten an. Dass sich gegenseitiges Verständnis und Einfühlsvermögen entwickelt und die Erfahrungen und Erlebnisse des anderen als Bereicherung gesehen werden, scheint eher selten zu sein. Dabei können auch unbewusste Kontaktverbote eine Rolle spielen.

Wie schon oft beschrieben wurde, standen die Familiensysteme in der Nachkriegszeit nach den Erfahrungen in Nationalsozialismus und Krieg unter dem Existenzdruck des Wiederaufbaus derart unter Spannung, dass für eine tiefergehende Analyse kein seelischer Raum war. Der Aufbau einer stabilisierenden "heilen Welt" stand im Vordergrund. Betroffene in der Kriegsenkelgruppe schilderten häufig, welch immense Bedeutung dem sonntagnachmittägliche Kaffeetrinken und Kuchenessen zukam. Störende psychische Anteile und die damit verbundenen Personen mussten isoliert oder ausgegrenzt werden, was auf dem Hintergrund eines Vertreibungskontextes wiederum interessant ist.

Persönliche Reifungsprozesse können womöglich länger dauern, als es ein Menschenleben zulässt. Unbearbeite Konflikte werden unter Umständen an die nächste Generation weitergegeben. Unterstützen kann bei Schritten in Richtung Heilung, wenn die normalen, nicht gelebten Entwicklungen und Anteile in den familiären Beziehungen vorgestellt werden und ein Bedauern entsteht, dass sie nicht umgesetzt werden konnten.

Es scheint auch so zu sein - aus meiner persönlichen Erfahrung in den Kriegsenkelgruppen heraus gesehen -, dass eher die späteren Kriegsenkel, ab etwa Mitte der 1960er Jahre geboren, unter Orientierungslosigkeit in Beruf und Lebensplanung leiden, während die älteren Kriegsenkel mehr die Wirtschaftswundermentalität verinnerlicht haben und zum "Workoholismus" neigen. Möglicherweise ist die Selbstunsicherheit bei den späten Kriegsenkeln, deren Eltern den Krieg als Kleinkinder erlebten (etwa ab Ende der 1930er Jahre geboren) am größten.

Die spannungsgebenden Ereignisse in den Familiensystemen sind offenbar vor allem Kriegs- und Nachkriegserfahrungen wie Bombenkrieg und Flucht/Vertreibung, (unbekannte oder tabuisierte) Täterschaft von Vorfahren, unbekannte Vorehen in der Elterngeneration, unbekannte Geschwister, Suizide, Kinder aus Vergewaltigungen (auch in der Ehe) und allgemein unbekannte oder nicht tradierte Phasen oder Abschnitte in der Familiengeschichte.

Auch bei der historischen und zeitgeschichtlichen Aufarbeitung der Familienherkunft sind es in den Familien oft Einzelpersonen, die sich damit beschäftigen. Manchmal werden Generationen übersprungen. Das Beispiel der Auswanderer nach Amerika zeigt jedoch, dass auch nach Jahrhunderten die Frage nach der Abstammung die Nachkommenden weiter umtreibt. In meiner Herkunftsfamilie interessieren sich beide Geschwister und weitere Verwandte der Kriegsenkelgeneration gleichermaßen für die Herkunft aus Ostpreußen. In der mütterlichen Familie haben sich in den einzelnen Familienzweigen gleich mehrere Verwandte der Kriegskindergeneration intensiv und langjährig mit der schlesischen Herkunft befasst. Dass das länderübergreifend in allen Richtungen der Fall ist, konnten wir bei meinem Vater im Zuge seiner Heimatforschung über viele Jahre hinweg miterleben. Über das Internet ist es heute noch viel einfacher, Kontakte zu knüpfen, wie ich bei den russischen und polnischen Bekannten erfahren durfte, die sich für die deutsche Geschichte ihrer Heimat interessieren (s. unten). Kriegsenkel gibt es vermutlich in allen Ländern dieser Welt.

In Einzelfällen habe ich gehört, dass es über die Beschäftigung mit Kriegskinder- und enkelthemen zu einer emotionalen Annäherung von Eltern und Kindern kam. Sina Agricola formulierte es in der Einführung zum Frankfurter Theaterstück so: "Die Auseinandersetzung ist schwierig und immer persönlich".

Die Sendung Frau TV vom 22.1.2015 beschreibt die fehlende Geborgenheit und das Fremdheitsgefühl einer "Kriegsenkelin" in ihrer Herkunftsfamilie.

Der Beitrag von Elena Griepentrog in HR2 Camino "Der lange Schatten von Bomben und Flucht - die Kriegsenkel" vom 9.5.2015 schildert kompakt und treffend die psychologischen Probleme, die im Familiensystem aus Ängsten, Tabuisierung und Abspaltung bei den Nachkommen entstehen.

Manche Betroffene arbeiten die Problematik in einer Psychotherapie auf. Um die Familiendynamik besser zu verstehen, sind auch Genogramme und Familienaufstellungen eine gute Möglichkeit.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über psychologische Abwehrmechanismen und ihre Bedeutung im Kriegsenkelkontext.

Abwehrmechanismus

Beschreibung Beispiele im Kriegsenkelkontext

Affektisolierung Fehlen oder Dämpfung eines normalerweise spontan auftretenden Gefühls in einer bestimmten Situation. Blockierung von Affekten und Stimmungen, Abspaltung der Gefühle von den Inhalten. Sich zusammenreißen.
Funktionieren.
Emotionale Erstarrung.
Sich nicht freuen können.
Kein Vertrauen in sich und andere haben.
Irritation durch die Lebendigkeit der Kinder.
Ängste.
Depression.
Unfähigkeit zu trauern.
Innerlich für andere nicht erreichbar sein.
Emotionales Mangelsyndrom bei den Kindern.
Selbstunsicherheit der Kinder durch unzureichendes Spiegeln ihrer Gefühle und fehlende Rückenstärkung durch die Eltern.
Unerträgliches Spannungsgefühl bei den Personen der Umgebung/Kindern.
Gefühl, dass etwas nicht stimmt, von Falschheit und Lüge, Gefühl des doppelten Bodens bei den Personen der Umgebung/Kindern.
Glasglockenleben/"falscher Film"/"Opferland"-Leben der Kinder.
Entwertung:
Relativieren/Bagatellisieren








Generalisieren
Objekte, Situationen, Ereignisse, Verhaltensweisen oder Personen werden bewusst abgewertet. "Das war doch nicht so schlimm." [Krieg, Gewalterfahrung, Flucht, Vertreibung]
Nationalsozialistische Gewaltverbrechen verharmlosen, z. B. durch den Vergleich mit den stalinistischen Verbrechen, der Ermordung der amerikanischen Ureinwohner, "dass sowas in der Geschichte zu allen Zeiten vorkommt" usw.
"Es war nicht alles schlecht bei den Nazis."
"Aber Hitler hat doch die Autobahnen gebaut."

"Das haben wir alle erlebt."
"Alle haben mitgemacht."
"Man konnte sich nicht wehren."
Idealisierung Objekte, Situationen oder Personen werden bewusst überhöht. Verehrung von Hitler, Hitlerbildern, NS-Abzeichen und -Uniformen.
Identifikation Übernahme bestimmter Verhaltensweisen, Anschauungen, Normen oder Werte einer anderen Person. Eintritt in die NSDAP oder andere NS-Organisationen.
Sich als "Arier" fühlen.
Stolz darauf sein, zur SS zu gehören, in eine "Napola" aufgenommen zu werden usw.
Wiederholung von autoritären und kinderfeindlichen Tendenzen.
Ablehnung der Opfer-Anteile der Deutschen durch Überidentifikation mit der deutschen Schuld.
Engagement in Vertriebenenverbänden.
Häufige Fahrten in die ehemalige Heimat.
Intensive Beschäftigung mit Ahnenforschung.
Übernahme einer zugeschriebenen Rolle, um der zuschreibenden Person nahe zu sein.
Projektion Eigene psychische Inhalte, z. B. Affekte, Stimmungen, Absichten und Bewertungen, werden anderen Objekten oder Personen zugeschrieben und an diesen bekämpft. Vorurteile (Stereotypisierung)
Verfolgungswahn
Antisemitismus, "der Jude ist unser Unglück", "der ewige Jude".
Antibolschewismus, "der bolschewistische Untermensch".
Aggression und Ausgrenzung gegenüber Familienangehörigen, "schwarzes Schaf/Sündenbock".
Aufteilung der eigenen Kinder in ein "gutes" und ein "böses" Kind, ein "goldenes Kind" und ein "Aschenputtel/Sündenbockkind".
Reaktionsbildung/Verkehrung ins Gegenteil Gefühle oder Motive werden durch entgegengesetzte Gefühle/Motive niedergehalten. Nur die abenteuerlichen Geschichten aus dem Krieg werden erzählt, nicht die angstmachenden. Der Krieg als "schönste Zeit des Lebens".
Spaltung/Aufspaltung/Abspaltung Inkompatible Inhalte und Affekte werden auf mehrere Objekte verteilt. Vorurteile (Stereotypisierung): gute Arier - böse Juden/Russen/Zigeuner/Homosexuelle/geistig Behinderte/psychisch Kranke.
Gewaltanwendung eines KZ-Aufsehers gegenüber den Inhaftierten bei gleichzeitig fürsorglich-liebevollem Verhalten gegenüber den eigenen Kindern.
Diskriminierung von Frauen als "Ami-Flittchen".
Aggression und Ausgrenzung gegenüber Familienangehörigen, "schwarzes Schaf/Sündenbock".
Aufteilung der eigenen Kinder in ein "gutes" und ein "böses" Kind, ein "goldenes Kind" und ein "Aschenputtel/Sündenbockkind".
Gefühl der Kinder, "nicht richtig" zu sein.
Zunehmende Schwierigkeiten mit den Eltern bei zunehmender Individuation der Kinder.
Verdrängung
aus Angst, Scham, Schuld oder Trauer
Ein konfliktreicher innerer Wunsch wird abgewehrt, sodass er nicht ins Bewusstsein kommt. Gefühlose Gewaltanwendung im Krieg.
Mitleidloser Umgang mit Schwächeren.
Eiskalte Tötung von Unterworfenen.
Abwurf von Bomben, ohne sich um die Opfer Gedanken zu machen.
Tabuisierung von Ereignissen.
Sich nicht erinnern können.
Alles vergessen haben.
Sprachlosigkeit.
Ängste.
Depression.
Unerträgliches Spannungsgefühl bei den Personen der Umgebung/Kindern.
Gefühl, dass etwas nicht stimmt, von Falschheit und Lüge, Gefühl des doppelten Bodens bei den Personen der Umgebung/Kindern.
Glasglockenleben/"falscher Film"/"Opferland"-Leben der Kinder.
Verleugnung Ein äußerer Realitätsausschnitt wird in seiner Bedeutung nicht anerkannt, indem er nicht emotional erlebt oder nicht rational begriffen wird. Die KZs als Arbeitslager ansehen.
Den Abtransport der Juden als Umsiedelung ansehen.
Die Existenz der Gaskammern anzweifeln.
Die Vertreibung der Deutschen als Umsiedelung ansehen.
Die früheren deutschen Ostgebiete als historisch nicht zu Deutschland gehörend ansehen.


Die Auseinandersetzung mit der Tabuisierung des deutschen Leids, die durch die "1968er-Generation" verstärkt wurde

In welch ein Spannungsfeld die Nachkommenden ihre Themen stellen, wird auch in Diskussionen wie bei Anne Will deutlich (Sendung vom 2.5.2012).



"Altlinke" wie Wibke Bruhns aus der Tradition der "1968er" werten die Auseinandersetzung mit dem Leidensaspekt der Deutschen sofort als "schuldige Opferschaft" ab, d. h. unterstellen der Beschäftigung mit dem Opferaspekt ein Relativieren der eigenen Schuld. Dieses aggressive Schwarz-Weiß-Denken (Täter: Deutsche, Opfer: Juden, Linke, Homosexuelle, Behinderte, Sinti und Roma...) charakterisierte die Generation der "1968er" und ermöglichte ihnen die Auseinandersetzung mit ihren Vätern, d. h. der Tätergeneration. Die Differenzierung und Weiterentwicklung besteht darin, auch die Opferschaft und den Leidensaspekt der Deutschen anzuerkennen und Mischrollen zuzulassen, d. h. die Deutschen als Täter und Opfer zu realisieren, ohne die Schuld zu relativieren.
Die etwa 20 Prozent der heutigen deutschen Gesellschaft ohne deutschen Wurzeln, die nach 1945 aus dem Ausland kamen, identifizieren sich aus ihrer persönlichen Biografie heraus weder mit dem Täter- noch dem Opferaspekt der Deutschen, sondern sind in ihrer Opferrolle als Ausländer und der Fixierung auf die Täterrolle der Deutschen festgefahren. Serdar Somuncu wiederholt in der Sendung von Anne Will im Grunde chauvinistisch-aggressives Täterverhalten, indem er seinem Diskussionspartner ständig das Wort abschneidet und seinem Gegenüber weder zuhört noch versteht, was er sagt (Kommunikationsabbruch).

In einem Artikel vom 22.3.2013 in der FAZ mit dem Titel "Wunschtraumata der Kinder" gerät dem Autor Wolfgang Michal einiges durcheinander, vgl. https://www.faz.net. Man wundert sich darüber, denn die Zeit ist nicht 1968 stehen geblieben! Bevor man sich zum Thema äußert, sollte man sich erst einmal mit den Lebensdaten der betroffenen Personen auseinandersetzen. Als Kriegskinder gelten die 1927/28 bis 1945 Geborenen, als "Kriegsenkel" deren Kinder. Unter den vor 1927 Geborenen befanden sich die Täter des NS-Regimes, deren Kinder die "68er" waren. Als "Nachkriegskinder" werden die 1945 bis Mitte der 1950er Jahre Geborenen bezeichnet. Die meisten "68er" waren Kriegs- und Nachkriegskinder.

Eine Vortrag von Dr. Sebastian Winter von der Uni Bielefeld vom 22.7.2014 beim Darmstädter AStA zum Thema "Lieber Kriegskind als Täterkind" macht deutlich, wie schwer sich gerade Linke auch heute noch mit der Anerkennung des eigenen Leids der Deutschen tun http://keineopfer.de/. Er zeigt aber auch, dass nicht alle Prägungen aus dieser Zeit auf den Krieg geschoben werden dürfen, sondern dass auch die nationalsozialistische Erziehung und die Meinungsdiktatur in der Nazizeit vermutlich eine große Rolle spielten.

Heinz Bude veröffentlichte zur Kriegsenkelthematik einen Artikel in der "Zeit", 37/14, "Generation Null Fehler - Die Vierzigjährigen von heute scheuen jedes Risiko. Damit verspielen sie die Zukunft" https://www.zeit.de. Einstellungen und Lebensstile einer Generation hängen jedoch von vielen Faktoren ab. Die 2014 35-45jährigen, die Hr. Bude anspricht, sind die zwischen 1969 und 1979 geborenen Kinder der "68er". Die unpolitische Haltung, die er bei ihnen entdeckt, kann zunächst einmal ganz einfach eine Reaktion auf die Überpolitisierung ihrer Eltern sein. Oftmals ist es so, dass die nachkommende Generation sich völlig anders verhält als die Eltern. Dazu kommt, dass diese Generation in den 1990er und frühen 2000er Jahren in der Zeit der höchsten Arbeitslosigkeit ins Berufsleben startete. Nur zu verständlich, dass sie von Perfektionismus geprägt ist, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Möglicherweise verlängern die Kinder der "68er" in ihrem aus verschiedenen Faktoren herrührenden Desinteresse an Politik die von ihren Eltern gesetzte Tabuisierung des eigenen Leids und Opferaspekts der Deutschen. Ein neuerer Artikel von Hr. Bude zeigt inzwischen ein etwas tiefergehendes Verständnis der Kriegskinderthematik: Wie viel 1945 ist in 1968? "Mit Adorno durch die Hölle" (2019).

Besonders merkwürdig wird die Beurteilung der Kriegsenkel- und Babyboomergeneration, wenn ein Kriegsenkel selbst dazu Stellung nimmt und mit der Nebelbrille des "1968ers" die Zusammenhänge nicht erkennt, wie Frank Schirrmacher (1959 geboren, Vater Ostpreuße, Mutter Polin) in seinem Artikel "Der Sturz der Babyboomer". Vgl. dazu Heike Schmitz in "Die Kinder der Kriegskinder" (S. 87): "Aber es erstaunt doch der geschichtslose Raum, in den der Autor des Artikels diese Generation zu stellen scheint, der er Ideenlosigkeit, Kauf- statt Überzeugungskraft bescheinigt, die den Markt statt den eigenen Kopf entscheiden lasse und deren Gewalt in der puren Masse bestehe. Dass Schirrmacher die Generationengrenze, die er zieht, nicht mit den historischen Daten des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs verbindet, hat wohl mit dem Beschwiegenden dieser Kindheiten der 30er und 40er Jahre, mit der eigenartig aus dem Blick gefallenen Generationenfolge zu tun." Wusste Schirrmacher etwa nichts von den "Kriegsenkeln"? "Die eine Generation hat die Trümmer verursacht und mit dem Aufräumen begonnen..." (Schmitz, s. oben, S. 92). "Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen - das ist Aufgabe der Enkel" (Merle Hilbk im "Spiegel" 6.5.2013, Nr. 19, S. 48-49). "Allmählich wäre darüber nachzudenken, ob es nicht diese Dominanz der durch die 68er Bewegung geprägten Denkweisen ist, die diesen lautlosen Stillstand weiterhin befestigt" (Schmitz s. oben, S. 98). Insofern hätte Schirrmachers Artikel nach Absetzen der Nebelbrille vielmehr heißen müssen: "Der Sturz der 1968er".

Interessant scheint mir, dass diese Prozesse des Verdrängens und Abspaltens im Ausland viel deutlicher gesehen werden als bei den einheimischen Intellektuellen, wie ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24.1.2016 über Breslau, die europäische Kulturhauptstadt 2016, von Roswitha Schieb zeigt, Die Blume Deutschlands.

Im Jahr 2018 ist auch der "Spiegel" in der Realität der Anerkennung der Vertreibung als wichtiges gesellschaftspolitisches Thema in Deutschland im historischen Kontext in der Gegenwart angekommen, vgl. den Artikel "Verdammter Flüchtling, du!" vom 14.2.2018. Mit seiner Berichterstattung des Ignorierens und Bagatellisierens hielt der Spiegel die Tabuisierung dieser Aspekte der deutschen Geschichte lange Zeit aufrecht.

Hamad Abdel-Samad geht in einer Sendung von Markus Lanz vom 24.9.2020 auf die Problematik der deutschen Schuld ein. Es kann nicht sein, dass rechtsradikale islamistische Verbände in Deutschland vorgeblich zu Zwecken der "Integration" hofiert werden, während der Dialog mit rechtsradikalen deutschen Parteien abgelehnt wird.

Dazu fällt mir ein, dass es bei der AfD eine ganze Reihe von in den 1970er Jahren Geborenen gibt: Tino Chrupalla (1975), Frauke Petry (1975), Björn Höcke (1972), Beatrix von Storch (1971), Alice Weidel (1979)... Stammen sie vielleicht aus ganz anderen Herkunftsfamilien als die "68er", nämlich aus solchen mit einer ungebrochenen politischen Tradition? Das sollte einmal untersucht werden.

Die Auseinandersetzung mit Stereotypen über Deutschland in der Geschichtsschreibung und in Medien

In Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und Filmen über die NS-Zeit werden immer wieder Dinge verbreitet, die ganz einfach nicht stimmen:

- Dass sich kein Deutscher gegen die Nazis gewehrt hätte, im Sinne einer Art Totstellreflex, Wegschauen, Bequemlichkeit, Tolerieren oder fehlendem Mut,
- dass es für den einzelnen Deutschen keine negativen Konsequenzen gehabt hätte, sich gegen die Nazis zu wehren, "es sei kein einziger Deutscher für Widerstand gegen Hitler verurteilt worden",
- dass die Tatsache, dass selbst die Bombardierung der deutschen Städte durch die Engländer und Amerikaner die Deutschen nicht zum Umdenken bewogen hätte, ein Zeichen dafür gewesen sei, wie fanatisch die Deutschen an die NS-Ideologie geglaubt hätten. Solche Aussagen werden zum Beispiel auch in dem ZDF-Zweiteiler "Die Suche nach Hitlers Volk" (2015) getroffen.

Diese falschen Darstellungen tragen möglicherweise dazu bei, dass derartige Auffassungen auch immer wieder in der Darmstädter Kriegsenkelgruppe geäußert wurden. Es ist aber für die eigene Identität als Deutsche/r wichtig, sich des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und der Opfer auf der Seite der Deutschen bewusst zu sein. Jede/r Deutsche sollte Namen wie Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Wilhelm Leuschner und Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Zusammenhang mit Widerstand gegen den Nationalsozialismus nennen können (ausgewählt wurden beispielhaft einige Personen aus den Bereichen der Kirche, der Literatur und der Politik). Als Darmstädter sollte man darüber hinaus Namen wie Heinrich Delp, Georg Fröba, Theodor Haubach, Wilhelm Leuschner und Ludwig Schwamb kennen, alles Menschen, die ihre Opposition zum NS-Terror vor Ort im Darmstädter Raum mit dem Leben bezahlten. Dazu Carlo Mierendorff, der bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Widerstand konnte nicht nur für die eigene Person, sondern auch für andere zur Lebensbedrohung werden, wie das Beispiel der Verhaftung und Deportation der zum Katholizismus konvertierten Juden in den Niederlanden als Reaktion auf den Hirtenbrief des Utrechter Erzbischofs De Jong zeigt.

Ein Wiederaufbau Deutschlands wäre ohne die vielen Menschen, die "nicht mitgemacht" hatten, gar nicht möglich gewesen - hier sollte jede/r Deutsche Namen wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und Martin Niemöller nennen können. Dass es neben dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 noch mindestens 38 weitere Anschlagsversuche auf Hitler gab, wurde mir in der Darmstädter Kriegsenkelgruppe zunächst nicht geglaubt.

Dass Bombardierungen von Städten die Zivilbevölkerung nicht zum Aufgeben zwingt, sondern aus Abwehr gegen diese Bedrohung zum verstärkten Durchhalten führt, ist inzwischen vielfach aus Kriegen bekannt. Insofern unterschieden sich die Deutschen in dieser Hinsicht nicht von anderen Völkern.

Zeitgeschichtliche Aspekte

Der Film "Der Mann mit dem Fagott" (2011) von Udo Jürgens schlägt einen wunderbaren Bogen über die Irrungen und Wirrungen der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert. Jürgens, ein 1934 in Österreich geborenes Kriegskind, schildert in dem Zweiteiler seine Familiengeschichte. Sein Großvater wanderte 1892 von Bremen nach Moskau aus. Damals galt Russland für Abenteurer als das Land, in dem man binnen kurzer Frist reich werden konnte, während die USA die Aussicht auf eine harte und entbehrungsreiche Aufbauzeit boten. Deutlich wird, dass Russland bis 1917 auf ganz andere Weise in die europäische Geschichte eingebunden war. Seit über einem Jahrhundert klaffen die west- und die osteuropäische Entwicklung auseinander, mit einer Reduktion von persönlichen Kontakten und einem gekappten Informationsaustausch, der zu den politischen Konflikten beiträgt. Interessanterweise war auch der Vater eines Mitglieds der Frankfurter Kriegsenkelgruppe noch kurz vor dem ersten Weltkrieg in Moskau geboren (ältere Väter gab es schon zu allen Zeiten). Die Betroffene hatte über ihn, einen Künstler, eine ähnliche Geschichte zu erzählen wie Udo Jürgens.

Die vielfältigen Bezüge der deutschen Geschichte von den Ursprüngen der deutschen Zerrissenheit im dreißigjährigen Krieg über die westliche Wertegemeinschaft bis Pegida und den islamistischen Terror erklärt der in Königsberg geborene Historiker Heinrich August Winkler in einem Zeit-Artikel vom 18.8.2014, in einem Artikel in der Wirtschaftswoche vom 25.1.2015 und im ARD-alpha-Forum vom 26.05.2015 .

Ausblick

Tabuisierungen aufbrechen bedeutet: Bewusst werden - Betrauern - Integrieren, d. h. Tatsachen realisieren, würdigen und so einordnen, dass Gedanken, Gefühle und Motivationen nicht mehr dadurch gebunden oder blockiert werden und die Person sich flexibel allen Themen zuwenden kann. Damit ist ein Zuwachs an Selbstbewusstsein und Persönlichkeitsreifung verbunden, denn in den tabuisierten, traumatischen Bereichen sind identitätsstiftende Aspekte verborgen. So kann z. B. die Anerkennung der Schwierigkeit, sich als Deutscher im Nationalsozialismus zu wehren, Konsequenzen für die heutige eigene politische Haltung haben. Das Auffinden eigener Wurzeln in den Herkunftsgebieten kann Fragen nach der eigenen Identität beantworten und Lücken in der eigenen Familienbiografie schließen. Die Entdeckung des reichen kulturellen Erbes in den Vertreibungsgebieten kann neue Impulse für die heutige eigene berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit geben.

Kriegsenkelgruppen

Kriegsenkelgruppe Ahrensburg
Berliner Kriegsenkel
Kriegsenkel Dortmund
Kriegsenkel Göttingen
Kriegsenkel e. V. (Hamburg)
Kriegsenkel Hannover
Weitere Gruppen auf Forum Kriegsenkel.de und in sozialen Medien wie Facebook.

Internetseiten von Kriegsenkeln

Alexandra Senfft
Gerhard Roese



Wie ist die aktuelle Situation und wie geht es weiter?

Der untergegangene deutsche Osten ist durch die Trauer über den Verlust und aus politischen Gründen über viele Jahrzehnte hinweg tabuisiert worden. 1989 kam das DDR-Gebiet plötzlich in unser bundesdeutsches Bewusstsein zurück und war für viele Westdeutsche ein unbekanntes Land. Seit 1989 taucht auch der historische deutsche Osten im Zuge der verbesserten Reisemöglichkeiten ganz langsam und bruchstückhaft wieder aus der Versenkung auf. Die früheren Ostgebiete scheinen teilweise als kulturgeschichtliches Phänomen ins Bewusstsein der heutigen Deutschen zurückzukommen. Die Aufarbeitung wird dadurch erschwert, dass viel Zeit vergangen ist und die "Erlebnisgeneration" wegstirbt. Aber erst dann, wenn der Verlust von einem Viertel des früheren Reichsgebiets offen gesellschaftlich betrauert und die Tabuisierung überwunden wurde, wird sich die soziokulturelle "Wunde" der Entwurzelung und des Gebietsverlusts schließen und das politische Spannungsfeld rund um die ehemaligen deutschen Ostgebiete und Vertriebenenverbände befriedet werden. Dazu gehört eine angemessene Würdigung des Leids der deutschen Vertriebenen in öffentlichen Gedenkstätten wie einem Museum des historischen deutschen Ostens, einem Zentrum_gegen_Vertreibungen und ähnlichem. Der von der Bundesregierung 2015 eingeführte Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20.6. ist ein sehr guter und längst überfälliger Schritt in diese Richtung. Auch der Sprachgebrauch sollte sich ändern, wenn von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Staatlichkeit Deutschlands gesprochen wird, statt "Deutscher Teilung" sollte es heißen: "Deutsche Teilung und Gebietsverlust". Damit ist exakt die Aufhebung der Tabuisierung des Gebiets- und Heimatverlusts der ostdeutschen Bevölkerung verbunden. Das kulturelle Erbe der früheren Ostgebiete sollte stärker als bisher erforscht und bewahrt werden. Ansätze dazu finden sich zum Beispiel in der umfassenden Rekonstruktion des Prussia-Schatzes https://www.welt.de.

Die Problematik rund um die Vertreibung wird in dem Filmbeitrag "Der Zweite Weltkrieg und wie wir damit umgehen", Phoenix, 31.8.2014 diskutiert.




Antje Vollmer meint, es wäre so unklar, was die Vertriebenen möchten. Wenn sie es deutlicher formulieren würden, könnten sie ihre Heimat besser "vergessen". Als aus Vertreibungsgebieten Stammende ist mir sofort klar: Das Unklare liegt in dem distanzierten Blick von Frau Vollmer auf die Thematik. Es geht gerade nicht um das "Vergessen", sondern um das Nicht-Vergessen. Die Vertriebenen möchten gesellschaftliche Würdigung, Akzeptanz und Wertschätzung ihrer Heimat, sodass diese als unauslöschlicher historischer Bestandteil von Deutschland auf ewig im gesellschaftlichen Gedächtnis bleibt. Die Gesamtkultur, die Gesamtmentalität, der Dialekt, nicht nur Einzelpersonen wie "Kant", "Marion Gräfin Dönhoff" oder die "Königsberger Klopse" (von denen kaum noch ein junger Deutscher heute weiß, warum sie so heißen). Und dazu brauchen wir mehr Gedenkstätten, Abschnitte in Schulbüchern und Erinnerung. Nur als Nebenaspekt findet man in diesem Filmbeitrag auch die zu Sowjetzeiten häufig vorkommende Relativierung der Naziverbrechen an den Gräueln der Stalinzeit. Beides ist nicht vergleichbar, auch die genannten Zahlen stimmen nicht. Im Zweiten Weltkrieg verschuldeten die Deutschen den Tod von etwa 60 Millionen Menschen weltweit, die Zahl der Toten in der Stalinzeit beträgt einen Bruchteil davon, wobei natürlich jeder unschuldig zu Tode gekommene Mensch zu beklagen ist, vgl. https://de.wikipedia.org.

Bei den heimatgeschichtlichen Verbänden und Initiativen fällt auf, dass die ostpreussischen Vereinigungen bis heute gut strukturiert weiterbestehen, während die Schlesischen sich langsam auflösen. So war es 2023 nicht mehr möglich, die alten deutschen Straßennahmen von Goldberg über schlesische Verbände herauszubekommen. Ein Grund könnte vielleicht die frühere stärkere Eigenstaatlichkeit von Ostpreußen im Vergleich zu Schlesien sein, das zwischen Ost und West, ähnlich wie das Elsaß, über Jahrhunderte hin und hergeschoben worde. Bei den Vertriebenenverbänden würde eine gendergerechte Sprache die Menschen heute womöglich in stärkerem Maße ansprechen als etwa der Begriff der "Landsmannschaft". Besonders in der heutigen Zeit scheint es auch wichtig, dass Interessensverbände des früheren deutschen Ostens sich vor einer politischer Vereinnahmung und Unterwanderung durch Geheimdienste in Acht nehmen.


Als Angehörige der "zweiten Generation" interessiert mich, was die Herkunft aus dem früheren deutschen Osten für mein Leben heute bedeutet, was es zu bewahren gilt an kulturellem Erbe, und wie der Kontakt zu den Menschen in diesen Regionen heute ist und sein sollte.


Am Beispiel Ostpreußens

"Ostpreußen to go" - Ostpreußen in 5 Minuten:

Immanuel Kant
Immanuel
Kant
Der alte Fritz
Der alte Fritz
E. T. A. Hoffmann
E. T. A. Hoffmann
Bernstein
Bernstein
Die Prussen
Prussen
Königsberger Dom
Königsberger Dom
Der Elch
Elche
Masuren (ohne
Masuren (ohne "die")
Das Bernsteinzimmer
Bernstein- zimmer
Königsberger Klopse
Königsberger Klopse
Tilsiter Käse
Tilsiter Käse
Trakehner Pferde
Trakehner Pferde
Kaliningrad
Kaliningrad


Hier eine Auswahl interessanter Links zur Geschichte, Politik und Kultur rund um Ostpreußen:

Alles brannte. Ostpreußen und Hannover - zwei preußische Provinzen im November 1938
Die Ausstellung vergleicht erstmals die jüdische Geschichte in zwei deutschen Regionen und liefert damit einen Beitrag zur grenzüberschreitenden Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit in Deutschland, Polen, der Russischen Föderation und Litauen. Sowohl Königsberg als auch Hannover gehörten zu Preußen, es handelt sich bei beiden Gemeinden um Provinzen an der Peripherie. Die Synagogen von Königsberg wie auch die in Hannover wurden im Stil des Historismus nach Vorbildern des Aachener und Wormser Doms gestaltet, beide wurden während der Novemberpogrome 1938 zerstört. Ausstellung vom 6.11. - 16.12.2014, liberale jüdische Gemeinde Hannover, Fuhse Street 6, 30419 Hannover. https://www.stiftung-denkmal.de

Amnesty International: Urgent Action - Prozessbeginn gegen Aktivisten in Kaliningrad https://www.amnesty.de

Bundesinstitut für Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKSE) http://www.bkge.de/

Das "Alte Haus" - Privatmuseum in Kalingrad mit Rekonstruktion einer Königsberger Wohnung https://www.tripadvisor.de

Deutsches Kulturforum östliches Europa https://www.kulturforum.info

Gott war die einzige Hoffnung - Zwei Familien, zwei Fluchtgeschichten: Die Wohlgemuths flohen 1944 aus Ostpreußen, die Karimis 2011 aus Afghanistan. Gibt es etwas, was sie verbindet? https://www.zeit.de

Gutshäuser und Schlösser im ehemaligen Ostpreußen Ermland - Masuren https://gutshaeuser-ostpreussen.de/

Königsberg/Kaliningrad http://klops.ru

Altstadtprojekt Königsberg (Rekonstruktion der Innenstadt) https://www.altstadt.ru/

Stadtplan von Königsberg, Shell-Stadtkarte Nr. 22, 1934/35 https://www.landkartenarchiv.de

Streetview Kaliningrad https://maps.yandex.ru

Die Albertus-Universität Königsberg http://ifb.bsz-bw.de

Freunde Kants und Königsbergs https://freunde-kants.com

Ostpreußen.net https://www.ostpreussen.net

RusslandForum https://aktuell.ru

Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie http://www.zbsa.eu

Videos:

Damals in Ostpreußen https://www.youtube.com

     

"Mythos" Ostpreußen:

Ostpreußen ist in denjenigen Teilbereichen der deutschen Gesellschaft, die sich damit beschäftigen bzw. einen Bezug dazu haben, teilweise zum "Mythos" geworden - im Gegensatz zu Pommern und Schlesien. Warum, das ist eine spannende Frage. Wahrscheinlich hat es mit der stärkeren Eigenstaatlichkeit Ostpreußens zu tun, der Abstammung von einem baltischen prussischen Urvolk, dem melting pot, der Ostpreußen im Kleinen wie Amerika im Großen war, dem Protestantismus und der aus all diesen Faktoren entstandenen besonders arbeitsamen und heimatverbundenen Mentalität. Bald jeder der gut zwei Millionen nach 1945 überlebenden Ostpreußen hat sich in seinem persönlichen und im Arbeitsbereich irgendwie in Erscheinung gebracht. Eine Landkarte oder Fahne von Ostpreußen gehörte wie selbstverständlich in der Wohnung der meisten Ostpreußen, die ich kenne, dazu. Auf vielen Todesanzeigen findet sich die Elchschaufel. In der Kriegsenkelgeneration sind die schreibenden, filmemachenden und wissenschaftlich tätigen Nachkommen von Ostpreußen überrepräsentiert. Und es ist ja schon faszinierend, dass im Jahr 2012 eine Monika Gruber in ihrer Fernsehshow Preußenwitze reißen kann, es aber weder ein Volk noch ein Land der Preußen mit ihrem Ursprungsland Ostpreußen mehr gibt!

Deutsch-Russisches Verhältnis:

Es prallen Welten aufeinander: Das weitgehende Ignorieren des historischen deutschen Ostens in der heutigen deutschen Mehrheitsgesellschaft und das große Interesse an der deutschen Vergangenheit gerade im russischen Teil des früheren Ostpreußens, der russischen Region Kaliningrad. Gerade in diesem Gebiet, das am stärksten unter dem Krieg und den Nachkriegsgräueln zu leiden hatte und das am allermeisten in der bundesdeutschen Gesellschaft tabuisiert wurde, ist das Interesse am größten. Dort werden ausgegrabene Schnürsenkel und Bierflaschen aus der Königsberger Zeit inzwischen auf Ausstellungen in Vitrinen "aufgebahrt". Besonders freut mich, im Jahr 2010 über das Internet den Kontakt zu einem gleichaltrigen Russen in Kaliningrad gefunden zu haben, der denselben Zeitraum aus der Perspektive der anderen Seite erlebt hat. Seine Eltern kämpften beide in der Roten Armee. Als Kind spielte er in den Ruinen des Königsberger Schlosses. Daraus hat sich eine über viele Jahre andauernde sehr interessante und lebendige Diskussion entwickelt. Wie groß die Wertschätzung für die deutsche Vergangenheit ist, zeigte seine Internetseite unter www.kanet.ru mit einer akribischen Gegenüberstellung von alten Königsberger und heutigen russischen Aufnahmen - im Zuge des Ukrainekrieges wurde sie leider 2023/24 aus dem Netz genommen. Die deutsche Geschichte wird dabei weniger als "ostpreußisch", denn als "deutsch" wahrgenommen, da das Ostpreußische dort noch zu wenig bekannt und fassbar ist. Es gibt zu wenig Kontakte zwischen Ostpreußen oder aus Ostpreußen Stammenden und den heute dort lebenden Russen.

Wie vielschichtig das deutsch-russische Verhältnis in Bezug auf das ehemalige Ostpreußen ist, zeigt sich auch in folgenden Aspekten: In Kaliningrad gibt es einen Mythos der Eroberung Königsbergs, des Siegs über Hitlerdeutschland, und der Sieg über die Nationalsozialisten wird nicht nur in Moskau, sondern gerade auch in Kaliningrad jedes Jahr im Mai groß gefeiert. Das gute alte Ostpreußen muss für den Sieg über Nazideutschland herhalten. Andererseits kursieren in der Bevölkerung Sagen und Gerüchte über verborgene Kammern, Keller, Tunnelsysteme im Untergrund Kaliningrads - psychologisch gesehen ein Ausdruck von Schuldgefühlen und Ängsten.

Der Film "Königsberg - Eine deutsch russische Versöhnungsgeschichte" von 2012 zeigt das Spannungsfeld, in dem die Menschen in der heutigen Oblast Kaliningrad leben.

Mich wundert auch im wieder, wie wenig persönliche Kontakte es zwischen Deutschen und Russen beim gemeinsamen Kriegsgedenken gibt, ganz anders als mit den westlichen Alliierten. In der Nähe meines Wohnortes gibt es in Klein-Zimmern einen russischen Soldatenfriedhof, Kontakte zu Angehörigen von Soldaten, die dort begraben sind, bestehen laut Auskunft der Gemeinde nicht. Als ich diese Bilder am 8.5.2015 machte, hat mich besonders die Begegnung mit einem älteren Ehepaar gefreut, das dort einen Blumenstrauß niederlegte.

   

Vgl. hierzu auch den sehr interessanten Beitrag in ntv "Die Gesichter der Kriegsveteranen" https://www.n-tv.de (2015).

Wichrowitz:

Meine väterlichen Vorfahren kommen aus diesem kleinen Ort im Landkreis Neidenburg tief im Süden Masurens in Ostpreußen. Zufälligerweise stammte die väterliche Familie eines Kommilitonen aus meiner Studienzeit aus einem Nachbarort. Mich fasziniert der Gedanke, einmal ein Treffen der Nachkommen der Bewohner von Wichrowitz zu organisieren und damit auch diesen Teil des "Bruchs" in der Geschichte zu überwinden. Wer waren die Vorfahren? Was hatten sie für Aufgaben, Funktionen, Berufe in diesem Ort? Wie flüchteten sie oder wurden vertrieben, wohin führte die Flucht, wo begannen sie neu, was ist aus ihnen geworden? Welche Erzählungen und Berichte gibt es bis in die nächsten Generationen? Genug Stoff für eine spannende Dokumentation ...

Die Namen der letzten Einwohner von Wichrowitz/Wychrowitz/Hardichhausen (Name des Orts während der Umbenennung im 3. Reich)/Wichrowiec (heutiger polnischer Name) im Kreis Neidenburg in Ostpreußen vor 1945 lauten:

Anuss, Bartkowski, Berg, Bluhm, Bornhold, Bukowski, Burdinski, Cybulla, Cybulla-Kirsch, Czimczik, Dibowski, Fischer, Galla, Gunia, Kadlubowski, Kallwitz, Karkowski, Kayss, Kensy, Kirsch, Kowalski, Kownatzki, Kozian, Jankowski, Jaroch, Joraschewski, Joraschkewitz-Pusch, Majewski, Maslowski/Masslowski, Maxin, Napiwotzki, Papajewski, Pawlitzki, Pilgrimowski, Pusch-Joraschkewitz, Rudowski, Siegmund, Schirrmacher, Sommerweig, Sobiray/Sobieray, Tallarek, Wilkop/Willkop, Wroblewski, Zeranski, Zudnochowski.


Wenn Sie das Thema interessiert, bitte nehmen Sie Kontakt auf: Dorothea Maxin E-Mail (Bitte hier klicken).
(Anmerkung: Leider hat sich bisher kein einziger Interessent gemeldet. Womöglich ist die Zeit noch nicht reif...)

Filmmaterial über Ostpreußen:

Weiß jemand zufällig, um welchen Bahnhof es sich handelt?


Kurzfilm bitte hier anklicken

Bisherige Vorschläge (bitte runterscrollen):

   

   

   


Am Beispiel Schlesiens

Glogauer Heimatbund e. V.
1954 gegründet, vereinigt er die Heimatvertriebenen sowie deren Nachkommen aus der Stadt und dem Landkreis Glogau in Niederschlesien und vertritt deren Interessen https://www.glogauerheimatbund.de/

Niederschlesien.info
Internetseite eines in Glogów (bis 1945 Glogau) ansässigen Polen, der in einer unglaublichen akribischen Feinarbeit eine Fülle von Informationen über das deutsche architektonische Erbe in zahlreichen niederschlesischen Orten zusammmengetragen hat. Auch mit ihm hat sich eine interessante Diskussion jetzt schon seit 2022 entwickelt. http://www.niederschlesien.info/

Priedemost (heute Przedmoscie) - Dokumentation der Geschichte eine niederschlesischen Ortschaft in der Nähe von Glogau und Ortsgemeinschaft der Nachkommen der Einwohner bis 1945
Diese Internetseite will auch eine Brücke zwischen der heutigen polnischen Bevölkerung und den ehemaligen deutschen Einwohnern schlagen. In einem gemeinsamen europäischen Haus muss ein ehrliches Nebeneinander möglich sein und darf Geschichte nicht verdrängt werden. Kluge Menschen schaffen sich Freunde, dazu gehören offene Türen und offene Herzen. Die Bereitschaft zur Versöhnung wurde schon oftmals bekundet, heute reichen wir unsere Hand aufs Neue! http://www.priedemost.de

Schlesier bauen die deutsche Hauptstadt
In der Geschichte Berlins spielt Schlesien eine bedeutende Rolle. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die engen Beziehungen zerstört.
Neue Zürcher Zeitung, 10.1.2016 https://www.nzz.ch


Geschichte vor Ort

Plan der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt mit Bessungen. Bearb. von A[lbert] Wamser. Giessen: Roth, 1894, Ausschnitt    Der große Woog mit den Bädern, Postkarte

Plan der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt mit Bessungen. Bearb. von A. Wamser. Giessen: Roth, 1894, Ausschnitt

Bei Bauarbeiten im Hinterhof kam im Sommer 2013 in Darmstadt der Keller des ehemaligen Hinterhauses zum Vorschein. Offensichtlich war er nach dem Krieg einfach zugeschüttet worden. Daraus hatte sich ein kleines Projekt entwickelt: "Zeitzeugen gesucht - zur Geschichte des Woogsviertels in Darmstadt". Haben Sie Erinnerungen an die Kriegszeit und den Wiederaufbau im Darmstädter Osten, Fotos oder andere Unterlagen und möchten davon berichten? Es soll eine Dokumentation entstehen. Es ist nicht so einfach, frühere Anwohner ausfindig zu machen. Vier wurden bereits gefunden und haben aus ihrer Kindheit im und nach dem Krieg berichtet. Sehr von Interesse wäre auch, Näheres zu Gottfried Gunder zu erfahren, der vor etwa 100 Jahren am Woog ein "Badhaus" unterhielt. Nach Unterlagen aus dem Stadtarchiv befanden sich seine Erben in den USA. Wer etwas dazu weiß, bitte bei der untenstehenden Mailadresse melden. Erste Ergebnisse wurden auf einer Veranstaltung am 6.11.2015 im Naturfreundehaus in Darmstadt, Darmstr. 4a, vorgestellt. Dieser Vortrag wurde in etwas gekürzter Form am 21.5.2016 im Rahmen der Veranstaltungen des Darmstadtia e. V. im Alten Pädagog, am 11.10.2018 bei der Akademie 55plus in der Heidelberger Str. 89 und am 8.10.2019 bei der AG "Lebenswertes Woogsviertel" der Naturfreunde Darmstadt wiederholt.

Krise in Europa

Traumaforscherin über Flüchtlinge: "Das Trauma ist universal" - Warum tun sich viele Deutsche so schwer damit, Flüchtlinge freundlich zu empfangen? Das liegt auch an unserer eigenen Geschichte, sagt Sabine Bode. https://www.taz.de (2015).
Kommentar: Die Analyse greift zu kurz. In Deutschland bildete sich 2015 in der Bevölkerung bereits deutlich vor Angela Merkels Angebot, das Dublin-Verfahren auszusetzen (21.8.2015) eine große sponante Welle der Hilfsbereitschaft. In anderen europäischen Ländern war dies in Ansätzen ähnlich, im Umfang jedoch nirgendwo mit Deutschland vergleichbar. Außerdem gab es in den Nachbarländern in viel stärkerem Ausmaß als hierzulande rechtspopulistische Parteien, die Flüchtlinge bekämpften. Das heißt, in dem Land, das schuldhaft in den Nationalsozialismus verstrickt war, war die Hilfsbereitschaft in der Flüchtlingskrise 2015 bei weitem am größten. Wie vielfach in den Medien berichtet, war dabei gerade die eigene Erfahrung von Flucht und Vertreibung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in den Familienbiographien für viele Bürger ein Motiv, sich ehrenamtlich für die heutigen Flüchtlinge einzusetzen.
Wie Sabine Bode richtig bemerkte, war dies in den 1990er Jahren während des jugoslawischen Bürgerkriegs noch nicht so. Damals brachen angesichts der Bilder von Flucht und Zerstörung bei vielen älteren Deutschen schmerzhafte Kriegstraumata aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Auch diese Veränderung spricht dafür, dass in Deutschland eine Weiterentwicklung, innerpsychische Auseinandersetzung und Bewältigung in den Familien stattgefunden hat, die 2015 in Hilfsbereitschaft für andere mündete.
Klar ist auch - wie Sabine Bode ebenfalls beschrieb - dass Empathie für andere voraussetzt, dass es einem selber finanziell einigermaßen gut geht. Mitte der 2000er Jahre, zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit, wäre eine solche Welle der Hilfsbereitschaft kaum vorstellbar gewesen. Aus der Position der Stärke heraus können die Deutschen heute anderen in Not helfen und das eigene Trauma ein Stück weiter bewältigen.
Ebenso richtig scheint mir Sabine Bodes Satz, dass schon eine Minderheit genügt, um Veränderungen in der ganzen Bevölkerung zu induzieren. Nur etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung hat Flucht und Vertreibung in den eigenen Familienbiographien - wobei die DDR-Erfahrung noch hinzukommt. Wie aber auch die Umweltbewegung zeigte, genügt das, um zu einer relevanten gesellschaftlichen Strömung zu werden. Insofern scheint es mir richtig, wie schon an anderer Stelle postuliert wurde, dass die Kriegsenkelbewegung mit ihrem Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Nachwirkungen in den Familien die Flüchtlingsbewegung mit vorbereitet hat.
Insofern möchte ich meinen früheren Gedanken wiederholen, dass die Flüchtlingswelle 2015/2016 eine Art kollektive Psychotherapie für die Deutschen war. Gerade in dem Land, in dem die Traumata des Zweiten Weltkriegs am weitesten verarbeitet wurden, war die Hilfsbereitschaft aus einer Position der Stärke heraus am größen. Um es umgekehrt mit Helmut Schmidt zu sagen: "Die Sieger bleiben meistens dumm". Das ist nicht bewertend gemeint, sondern spiegelt die Tatsache, dass der Leidensdruck eines Scheiterns eben auch mehr innerpsychische Reifung erzeugen kann. Möglicherweise war Deutschland gerade dadurch für die Herausforderungen des weltweiten Rechtspopulismus lange Zeit mit am besten gerüstet.

Wiederholt sich Geschichte?

Nein, aber es gibt Ähnlichkeiten. Den Startschuss für den Aufstieg Adolf Hitlers waren die von den Deutschen so empfundenen Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrags. Das Trauma Wladimir Putins scheint der Zerfall der Sowjetunion zu sein. In einem Interview mit Bloomberg TV vom 1.9.2016 hatte er die Situation noch rational unter Kontrolle. Demjenigen, der die "Büchse der Pandora" der Grenzverschiebungen im östlichen Europa öffnet, wünschte er - im übertragenen Sinne - "viel Erfolg" (die Passage findet sich bei 10.39 Min). Jetzt hat er diese "Büchse der Pandora" selber geöffnet.






(Diese Seite wurde am 10.4.2012 erstmals ins Netz gestellt. Sie wurde fortlaufend erweitert und zuletzt am 21.4.2024 aktualisiert.)


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